T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

Mein Foto
Name:

Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Montag, November 28, 2005

Rubriken: Hegelei, Ästhetik

[Ich fang mal grossspurig an: Was ich hier sagen wollte, liess sich nicht sagen. Und gleich schlichter: Ich bin gescheitert. Aber da ist dieses Bedürfnis, von meinen Abenteuern im Hegelland zu berichten. - Die Zitate stammen aus den Abschnitten über den 'speculativen Satz' aus der nachgeschriebenen Vorrede zur 'Phänomenologie'. Alle Hervorhebungen von mir. ]

[Abstract: Das Ganze ist die Summe seiner Teile. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Dieses Ganze, von den Teilen weggerissen (das abstrakte Ganze), ist wieder bloss ein Teil unter Teilen. Das wahre (konkrete) Ganze muss als Einheit des von den Teilen auch zu unterscheidenden (abstrakten) Ganzen und der Teile gedacht werden:

Identität von Identität und Nichtidentität
Schwebende Mitte und Vereinigung beider

Das Ganze ist lebendig, lebt in/aus Spannungen. Das Ganze pulsiert. - Eine einem Metrum gehorchende Reihe von Wörtern ist noch kein lebendiges Gedicht. Eine ihrem eigenen Akzent gehorchende Reihe von Wörtern ist kein Gedicht. Im lebendigen Gedicht wird der Konflikt zwischen beiden Elementen ausgetragen. Das Resultat ist ein pulsierender Schwebezustand, in dem starres Metrum und der Eigenimpuls der Worte sich überlagern und so eine neue Einheit bilden, den Rhythmus, die Einheit von Metrum und Wortakzent.]

Das vorstellende Denken, da seine Natur ist, an den Accidenzen oder Prädicaten fortzulauffen, ..., wird, indem das, was im Satze die Form eines Prädicats hat, die Substanz selbst ist, in seinem Fortlauffen gehemmt. Es erleidet ... einen Gegenstoss.

"Das ist mein Stichwort: Fortlaufen. Tschüss!" - "Wart!"

Vom Subjecte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es [das vorstellende Denken], indem das Prädicat vielmehr die Substanz ist, das Subject zum Prädicat übergegangen und hiemit aufgehoben; und indem so das, was Prädicat zu seyn scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frey herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten.

"Mich kann nichts mehr aufhalten." - "Wenn du wüsstest, was du verpasst!"

Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, dass die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjects und Prädicats in sich schliesst, durch den speculativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoss zu jenem Verhältnisse enthält.

Und jetzt kommt's:

Dieser Conflict der Form eines Satzes überhaupt, und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Accente statt findet. Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beyder.

Es steigt der Strahl und fallend giesst
Er voll der Marmorschale Rund.

So ist es gut. Hier herrscht das Metrum ungebremst, hier steigt der Strahl, hier fällt der Strahl, er steigt so flüssig, als er fällt. Der wackere Onkel Albert, der festlichen Familienanlässen mittels seiner allseits geschätzten Reimereien das gewisse poetische Etwas zu verpassen versteht, ist stinkzufrieden. Und nie wird er verstehen können, wie ein "Grosser" dazu kommen kann, die Sache schliesslich doch noch zu verpatzen:
   
Aufsteigt der Strahl und fallend giesst
Er voll der Marmorschale Rund.

"Aufsteigt der Strahl": Der Wortakzent von "aufsteigen" sperrt sich gegen das Metrum. Dieses erhebt den Anspruch, dass alles sich ihm füge. Diesem Anspruch Genüge zu tun ist nicht besonders schwierig, wie uns bei jedem gemütlichen Beisammensein demonstriert wird. Was sich gegen diesen Anspruch sperrt, ist - mit Hegel gesprochen - die Sache selbst. In ihr erkennen wir zwei Bewegungen. Eine erste, kraftvolle Bewegung, ein Aufschiessen des Wassers, das sich gegen die Schwerkraft aufstemmt und schon bald einen vorübergehenden Ruhepunkt erreicht, an dem die zweite Bewegung einsetzt, ein Abfallen zum Schwerpunkt, das in ein ruhiges, gemächliches Fliessen übergeht, bis es den zweiten und endgültigen Ruhepunkt erreicht, an dem das Wasser/Metrum versiegt: "Und strömt und ruht."
   
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

[Conrad Ferdinand Meyer: Der römische Brunnen.]

[Willst du noch mehr davon? Dann "Komm in den totgesagten park und schau". - So beginnt Georges 'Jahr der Seele'. -
"Warum würdest du gerade dieses Buch auf die besagte Insel mitnehmen? Du weisst doch schon, wer den Krug zerbrach." "Es ist der Rhythmus: 'Ei, was zum Henker!' geht es los. Oder lies doch mal den ersten dieser beiden Blankverse streng metrisch:

Adam: Der Fuss! Was? Schwer! Warum?
Licht: Der Klumpfuss?
Adam: Klumpfuss!
Ein Fuss ist, wie der andere, ein Klumpen.

Dagegen kommt doch kaum ein Knittelvers an!"]

Buchprojekt: Anerkennungsgeschichten

[Unverhofft kommt oft ...]

Im Alleingang

Der 'Tatort' vom 27. 11. 05

Martin Schröder hat nie verkraften können, dass er bei einem Auslandeinsatz der Bundeswehr im Kosovo, an dem auch seine beiden Mordopfer beteiligt waren, Zeuge einer Vergewaltigung geworden war. Sein zweites Opfer, ein für die Behandlung traumatisierter Soldaten zuständiger Militärpsychologe, hatte ihn als ZD (Zeitdieb: Simulant oder belangloser Fall) eingestuft und als Patienten abgelehnt. Martin Schröder hat eine Reihe auffälliger Spuren gelegt, die schliesslich zu seiner Verhaftung führen.

Martin Schröder hat seine Frau und die beiden Kinder, mit denen sie ihn verlassen hatte, auf einem belebten Kinderspielplatz aufgesucht. Nun sitzt er zusammen mit ihr auf einer Bank. Er ist bewaffnet. Kommissar Casstorff nähert sich ihm vorsichtig, allein, auf fintenreichen Umwegen. Setzt sich ihm schliesslich gegenüber. Schaut ihm in die Augen. Langes Schweigen. Dann schlägt Casstorff seine Jacke auf und zielt mit der Hand auf die Innentasche. Schröder zieht seine Pistole. Casstorff zieht langsam ein Papier aus der Tasche. Dreht es um. Streckt es Schröder entgegen. Es ist ein Foto des Vergewaltigungsopfers. Schröder nimmt das Foto langsam an sich. Legt die Pistole neben sich. Schaut auf das Foto. Dann beginnt er ruhig zu erzählen. Casstorff hört ihm zu. Abspann.

Die zwei Morde, von langer Hand vorbereitet und sorgfältig ausgeführt, enthalten eine einfache Botschaft: Es gibt mich, der dieses Mädchen gesehen hat. Der Kommissar versteht die Botschaft, und er gibt dem Täter zu erkennen, dass er sie verstanden hat. Damit ist für diesen die Welt wieder in Ordnung.

Da waren es schon zwei. Ende des Alleingangs. Abspann.

Mittwoch, November 23, 2005

Rubrik: Hegelei

Unter dem Titel "Erste Stellung des Gedankens zur Objektivität" beschreibt Hegel in der "Enzyklopädie" die erkenntnistheoretische Position, die wir heute als naiven Realismus bezeichnen würden. Philosophische Terminologie ist freilich nicht die Stärke des Absolventen des Tübinger Stifts. So behilft er sich wie andernorts auch hier mit der deutschen Sprache. Er spricht von dem "unbefangenen Verfahren, welches ... den Glauben enthält, dass durch das Nachdenken ... das, was die Objecte wahrhaft sind, vor das Bewusstseyn gebracht werde. In diesem Glauben geht das Denken geradezu an die Gegenstände", braut diverse Eindrücke "zu einem Inhalte des Gedankens" zusammen "und ist in solchem als der Wahrheit befriedigt." [Hervorhebungen von Philotustan]

Sich unbefangen, ganz ohne Umstände (geradezu) an die Sache machen und bald schon sich stinkzufrieden zurücklehnen, weil man die Wahrheit gefunden zu haben glaubt. "Alle anfängliche Philosophie" [Ich schätze mal, Hegel versteht darunter die gesamte vorkantische Philosophie] denkt so. Alle Wissenschaften denken so. Doch sie brauchen sich ihrer Naivität nicht zu schämen: "Selbst das tägliche Thun und Treiben des Bewusstseyns lebt in diesem Glauben." - Tja, wenn das so ist. Was will man dann von Philosophie und Wissenschaft anderes erwarten?

Wenn's für den kleinen Hannes sich geziemt,
Braucht auch ein Newton nicht sich zu verstecken.

Dienstag, November 22, 2005

Rubriken: Lebensweisheit; Jan Schlendri

Nie wieder Krieg!


Rüdiger Safranski hat ein ausgesprochen freundliches Büchelchen mit dem Titel "Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?" geschrieben. Gegen Ende seiner Darstellung wirft Safranski die Frage auf: "Wonach fragt, wer nach der Wahrheit fragt?" Antwort: Wer nach der Wahrheit fragt, fragt nach dem richtigen Leben. Von dort her erst beginnt nachträglich der Titel eine nachhaltige Wirkung zu entfalten, indem er eine nicht abbrechende Reihe von lebensfreundlichen Fragen evoziert:

Wie weit darf ich meine Bemühungen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, treiben? Wo führt das Streben nach Vervollkommnung ins Verderben? Ab welchem Punkt führen die höchst ehrenwerten Unterfangen, seinem inneren Schlendrian den Garaus zu machen oder den inneren Schweinehund abzuwürgen, zum elendiglichen Ende des Gastwirts selber? Wieviel Korrektheit darf ich mir zumuten? Wo muss eine Abrüstungsbewegung die permanente moralische Aufrüstung und verbissene Kriegsführung gegen alles Falsche, Mediokre, Unvollkommene herausfordern und in ihre Schranken weisen? Warum eigentlich geniessen Moralinjunkies ein so hohes Ansehen?

Safranskis lesenswertes Buch führt eine Reihe von interessanten Fallstudien vor. Es betrachtet das Leben einiger Schriftsteller und Philosophen unter dem Gesichtspunkt der Titelfrage und demonstriert so an bemerkenswerten Beispielen misslingenden und gelingenden Lebens (Rousseau, Kleist, Kafka) die Notwendigkeit und Heilsamkeit moralischer Abspannung.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. So what? Es gibt gelingendes Leben im katastrophischen/vergnüglichen Kuddelmuddel.

Ich erlaube mir, an dieser Stelle meinen liebsten Hausgenossen, Jan Schlendri, als Beispiel für gelingendes Leben anzuführen. - "Das ist verdammt nett. Ich geh jetzt Holz spalten. Hab gerade Lust, mich da so richtig reinzuknien. Weisst du, wie der Kafka ins Schreiben. Oder so. Na dann Tschüss!" - "Tschüss!" - Keine Sorge: Dem stellt es über kurz oder lang von alleine ab. Wie es sich gehört, und wie es ihm gefällt.

Rubrik: Zitate

Eine Katze macht aus einem Haus erst ein Zuhause. Zusammen mit einer Katze ist ein Schriftsteller weniger allein und doch allein genug, um zu arbeiten. Mehr noch. Eine Katze ist ein wandelndes, schlafendes, sich stets veränderndes Kunstwerk.

[Patricia Highsmith. Katzen. Drei Stories, sechs Gedichte und acht Zeichnungen]

Montag, November 21, 2005

Rubrik: Anlageberatung

Wenn das keine spannende Idee ist!

Du magst wenig bekümmert dreinschauen, wenn du erfährst, dass in unseren Breitengraden die Schere zwischen den Besitzern eines schnittigen Zweitwagens und denen, die sich gerade mal einen kostengünstigen Japaner leisten können, immer grösser wird. Aber Armut ist für dich schon ein Thema. Du informierst dich - zum Beispiel hier - über interessante Formen von Entwicklungszusammenarbeit. Du hast wie meine Frau und ich hier eine Kinderpatenschaft übernommen. Jetzt aber willst du noch einen draufsetzen: Du träumst nämlich davon, einer tüchtigen Frau auf den Kapverdischen Inseln, die Mann und Kinder mit ihrem Krabbenfang ernährt, den Kauf eines Bootes zu ermöglichen. Du weisst bloss nicht, wie du das anstellen könntest. - Nun, es gibt Möglichkeiten.

Mikrofinanz


Ich will das UNO-Jahr der Mikrofinanz nicht verstreichen lassen, ohne meine Leser auf diese in jeder Hinsicht interessante Anlagemöglichkeit hinzuweisen. Ein GeGoogle via "Mikrofinanz" (Seiten aus der Schweiz) zeitigt interessante Resultate. Und ob du nun den Links auf emagazine.credit-suisse.com oder denjenigen der Erklärung von Bern folgst, früher oder später landest du bei der sehr informativen Website von responsAbility. - Viel Vergnügen!

Hier noch ein kleines Appetithäppchen aus einem Interview mit Klaus Tischhauser, dem Gründer von responsAbility:

Frage: Zu den Gründerorganisationen von responsAbility gehören so unterschiedliche Organisationen wie die Alternative Bank und die Credit Suisse. Wie kommen solche Partner zusammen?

Klaus Tischhauser: responsAbility ist aus der Initiative einiger privater Individuen entstanden. Wir hatten das Ziel, einen möglichst signifikanten Beitrag zur Entwicklungsfinanzierung zu leisten. Und um dies zu erreichen, haben wir uns entschlossen, den Hebel da anzusetzen, wo man am meisten bewirken kann - bei den Banken und vor allem bei ihren KundInnen. Sozusagen als Zeichen an den gesamten Finanzmarkt haben wir von jedem Segment des Schweizer Finanzmarktes eine Vertreterin gewinnen wollen, um eine offene Plattform für Anlagen mit einer sozialen Renditekomponente und Fokus auf Entwicklungsländer aufzubauen. So sind dann ein Global Player (Credit Suisse Group), eine Retailbank (Raiffeisen-Gruppe), ein Privatbanquier (Baumann & Cie, Basel) und eine sozial-ethisch orientierte Bank (Alternative Bank ABS) sowie ein Rückversicherer (Swiss Re) zusammen gekommen. Es verbindet sie alle die Überzeugung, dass man in ihrem jeweiligen Kundensegment mit geeigneten Instrumenten Mittel mobilisieren kann, die neben einer finanziellen Ertragskomponente auch einen gesellschaftlichen Nutzen erzielen.

Sparer aller Lager, vereinigt euch!

Sonntag, November 20, 2005

Rubrik: Lebensweisheit

Was wir am Systematiker und Denker der Totalität, G. W. F. Hegel, so schätzen, sind seine Abirrungen und Ausschweifungen, sein ausgeprägter Hang zum Unsystematischen, seine Furchlosigkeit davor, sich die Hände schmutzig zu machen, nachdem er eben beinahe furchteinflössend darauf hingewiesen hat, dass die Darstellung in der Philosophie rein im Elemente des Denkens sich zu bewegen habe. Keine zwei Seiten später bekommen wir eine Zeitungsanzeige ("The Art of Preserving the Hair, on Philosophical Principles") vorgesetzt und dürfen zur Kenntnis nehmen, was ein gewisser Brougham in der Parlamentssitzung vom 2. Febr. 1825 zum besten gegeben hat. [Die Angabe von Tag und Monat setzt Hegel in Klammern, was uns vermuten lässt, dass er selbige Angaben für nicht übertrieben wichtig hält.] -
Ich wage zu bezweifeln, dass Hegel heute, wie immer wieder als selbstverständlich hingestellt, unter den Frauenzeitschriften am ehesten zur 'Annabelle' greifen würde. Nichts, rein gar nichts, spricht gegen die 'Petra', oder die 'Brigitte', zumal wenn diese einen wichtigen moralphilosophischen Begriff zur Sprache bringt, den doch glatt verpasst, wer sich auf einseitige Publikationen wie die 'Kant-Studien' u. dgl. verlässt.

Selfness
oder
Oh, wie schön ist Panama!


Selfness ist Eigenverantwortung, verstanden als die Fähigkeit und die Bereitschaft, gut zu sich selber zu schauen.
[Ende Theorie. Huch!]

Beispiel: Ich sollte wissen, wie ich mich im Urlaub gut erhole, und dann auch bereit sein, mich gut zu erholen.
[Den Hinweis auf die Bereitschaft darf für trivial erklären, wer bei der Planung des Urlaubs nicht gleich von Anfang an sich um das Wohlbefinden seines Lebenspartners sorgt.]

In gut Hegelscher Manier erlaube ich mir eine kleine Ausschweifung: Selfness ist etwas, um das man sich frühzeitig kümmern sollte. Sonst droht, was John Cage so beschreibt:
Mit der Zeit habe ich gelernt, auf mich aufzupassen. Es hat lange gedauert. Wahrscheinlich werde ich zum Zeitpunkt meines Todes in perfekter Verfassung sein.

Nun aber hat Franziska Wolffheim das Wort:

Vielleicht erinnern Sie sich: Der kleine Bär und der kleine Tiger wollen nach Panama. Zwar sind sie glücklich in ihrem Haus am Fluss, aber da ist die Sehnsucht, und die kriegen sie nicht aus dem Kopf. Sie brechen auf, biegen viele Male links ab - und landen am Ende wieder zu Hause. Dort kaufen sie ein gemütliches Sofa aus Plüsch, fangen Fische, suchen Pilze und sind mit sich und der Welt zufrieden: "Oh, wie schön ist Panama!"

[Stichworte: heim-lich, heimlichtun (i. Gs. zu heimlich tun!), Heimlichtuerei; λαθε βιωσασ ("Lebe im Verborgenen", "Ergib dich der Heimlichtuerei")]

Rubrik: Volkswirtschaft

Satz 1:
Deutschland ist Exportweltmeister.
Satz 2:
Die deutsche Volkswirtschaft gehört zu den wettbewerbsfähigsten der Welt.
Satz 3:
Die Arbeitslosigkeit steigt stetig, der Wohlstand sinkt, das Wirtschaftswachstum ist anhaltend schwach.
Satz 4:
Die Binnennachfrage in Deutschland ist schwach.

1 ist [fast] richtig. 3 und 4 sind praktisch unbestritten. 2 scheint aus 1 zu folgen. 3 scheint 1 zu widersprechen.

Spezielle Frage:
Warum überträgt sich die starke ausländische Nachfrage nicht auf die Binnenwirtschaft?

Allgemeine Frage: Was ist los? Wie passt das alles zusammen? Mir ist das alles ein

Rätsel


Eine oft vertretene Position:
Wir sind Exportweltmeister. Das ist ein Beleg dafür, dass die deutsche Volkswirtschaft sehr wettbewerbsfähig ist. Natürlich brauchen wir Reformen. Aber es besteht kein struktureller Handlungsbedarf. - Praktisch geht es darum, die Binnennachfrage zu stärken. Das tut man nicht, wenn man den Schwachen immer mehr wegnimmt. Auch die Zurückhaltung in Lohnfragen wirkt schädlich. Zudem sollte der Staat wieder vermehrt investieren. Die Starken müssen stärker besteuert werden. Und wir sollten endlich aufhören, unser Land ständig kleinzureden.

Diese Position wird in jeder Diskussion vertreten. Und in jeder Diskussion wird sie auch als ökonomisch widersinnig abgetan oder schlicht belächelt. Ernster zur Sache geht es hier:
Hans-Werner Sinn: Die Basar-Ökonomie. Deutschland, Exportweltmeister oder Schlusslicht? Econ-Verlag, Berlin 2005.
Eine Besprechung des Buches findet sich in der NZZ vom 19./20. Nov. 2005.

[Wenn mindestens zwei Leser in einem Kommentar mich namentlich lieb darum bitten, werde auch ich ganz brav sein und Hans-Werner Sinns Lösung des Rätsels verraten. Warnung: Sie ist nur für Leute, die nicht gleich entsetzt 'Neoliberalismus' schreien. T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn - Realitätssinn.]

Samstag, November 19, 2005

Rubrik: Eintagsfliegen

"Warum eigentlich sollte das spielerische Glück des Geistes vom Risiko des Irrtums gemindert werden?"

Raus aus dem Elfenbeinturm!


Adorno wurde seinerzeit gern von Leuten zitiert, ja beschworen, die in Seminaren darauf insistierten, dass selbige zu verlassen seien. Die Flucht aus dem Elfenbeinturm hatte man als Akt der Solidarität gegenüber den Unterdrückten und als Beitrag zur Entwicklung des richtigen Bewusstseins derselben zu verstehen. Es gab ja viel zu tun, damals, und man hatte ja so vieles zu beachten. [Sich darüber zu mockieren, wäre sogar für einen unter der Rubrik 'Eintagsfliegen' segelnden Blog zu billig. Schwamm drüber.] - Ich hatte dann eines Tages die Schnauze voll davon, Adorno inklusive. Kein richtiges Leben im falschen, keine Harmlosigkeit mehr, universaler Verblendungs- und Schuldzusammenhang. Fuck off! - Das war wohl ein kleines Missverständnis. Der grosse Theodor hatte ja niemans zu nix genötigt. Er hatte bloss in vielleicht allzu ernsthaften und dadurch missverständlichen Worten eine freundliche Einladung ausgesprochen. Das 'Raus aus dem Elfenbeinturm' war schon richtig. Bloss die Fortsetzung fehlte: "Hinaus auf den kühlen Wiesengrund! Spielerisches Glück des Geistes! Keine Angst vor dem falschen Bewusstsein!"

"Raus aus dem Elfenbeinturm!" - "Dann geh schon! Ich hab zu tun!"

Rubrik: Hegeleien

[Hegel-Lektüre mag schnell zu Ermüdung und Überdruss führen, doch langweilig ist sie nie. Und weil sie zugleich ein höchst einsames Geschäft ist, erzählt der Lesende in einer neuen Rubrik von seinen Abenteuern.]

Der Verzehr hat die Kochkunst und dergleichen zum Ausgangspunkte. Dadurch als einen Reiz erregt, benimmt sich der Verzehr wesentlich so, dass er über das durch die Kochkunst Zu- und Aufbereitete sich erhebt und sich so zunächst ein sich entfernendes, negatives Verhältnis zu jenem Anfange gibt. Er findet so in sich, in der Idee des allgemeinen Wesens der Speisen, zunächst seine Befriedigung. Diese Idee (die Grosse Nährmutter, der Nährwert) kann mehr oder weniger abstrakt sein. Umgekehrt bringt die Kochkunst den Reiz mit sich, die Form zu besiegen, in welcher der Reichtum ihres Inhalts als ein nur Unmittelbares und Gefundenes, nebeneinander gestelltes Vielfaches, daher überhaupt Zufälliges geboten wird, und diesen Inhalt zur Notwendigkeit zu erheben. Dieser Reiz reisst den Verzehr aus jener Allgemeinheit und der nur an sich gewährten Befriedigung heraus und treibt ihn zur Entwickelung von sich aus. Diese ist einerseites nur ein Aufnehmen des Inhalts. Doch sie gibt demselben zugleich andererseits eine Gestalt, in der er frei im Sinne des ursprünglichen Verzehrs nur nach der Notwendigkeit der Sache selbst wieder hervorzugehen vermag.

[Stichworte: Food, Geköch, Bedienung; Konsumption/Verzehr, Verarbeitung/Verdauung, Notwendigkeit/Notdurft]

[Wer mehr davon in ernsthafterer Form will, wird hier gut bedient. Die "Enzyklopädie" ist frei zugänglich. Meine kleine Ausschweifung entzündete sich an Par. 12. -
Im Ernst gesprochen: Hat du dich erst mal in einen solchen Paragraphen reingekniet, hast du also nicht gleich den Rückweg angetreten, wenn von Dingen wie der 'in sich reflectierten, daher in sich vermittelten Unmittelbarkeit' die Rede war, denkst du nie mehr so wie vorher. Grosses Ehrenwort! - Lass dich nicht einschüchtern! Geh wie der grosse Leser Adorno nicht davon aus, dass da in jedem Fall ein Sinn verborgen ist, an den du beim besten Willen nicht rankommst. Folge Adornos Ratschlag, frei zu assoziieren. Dann geh spazieren, lies was anderes (einen Comic oder einen besonders dunklen Abschnitt aus der 'Logik'), lies den Paragraphen, den du dir vorgenommen, nochmals, und nach einem Monat/Jahr nochmals. Dann wirst du vielleicht festellen, dass du der 'Sache' immer noch nicht habhaft geworden bist. Vielleicht bist du mittlerweile in neuen Irrtümern gefangen. Aber erstens bist du in jedem Fall ein anderer Mensch, und zweitens gilt, was aus dem tiefsten Wiesengrunde schallt:
Warum eigentlich sollte das spielerische Glück des Geistes vom Risiko des Irrtums gemindert werden?]

[Titel: Der Schiss]

Donnerstag, November 17, 2005

Rubrik: Wissenschaftstheorie

Rückfällig

Wieder mal in Adornos "Metakritik" geblättert. Ein Teilsatz zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich bleibe hängen, tauche in den Kontext. Die Gedankenmaschine beginnt gemächlich zu schnurren. Sehr konzentriert und ruhig arbeitet sie die ersten langen, spannungsreichen Perioden ab. Wieder abspannend verweilt sie bei einer dazwischengestreuten prägnanten Sentenz, streunt davon, lässt sich wieder einfangen von der Kraft des artistisch gepflegten, von Leitmotiven durchwirkten Gedankennetzes. - Die Maschine beginnt sich langsam zu überhitzen. An ein Aufhören mag nicht gedacht werden. Kontrollverlust. Ermüdung. Schliesslich Überdruss. Etwas Maschinenwartung. Ernüchterung. Dann wird ein Blog geschrieben. - Ich lese laut. Jan hört manchmal mit. Die Rede ist von einem Denken, "das der Idee des Systems nicht sich beugt". "Das ist doch schon lange gegessen, wo doch heute eh alles möglich ist. Anything goes."

Anything goes


Seitdem an einem kühlen Novembermorgen des Jahres 1999 im Kindergarten von Winzigkreuth der kleine Michael seinem Kameraden Tim bündig nachwies, dass es so nicht geht, gilt der Satz in weiten Kreisen als wiederlegt. Ich wollte es genau wissen und fuhr in dieses Kreuth. Es stellte sich heraus, dass die Kindergärtnerin, Frau Anna Immenfroh, eine leidenschaftliche Fallibilistin und Bewunderin Paul Feyerabends ist, aus dessen "Against Method" der Satz stammt. Frau Immenfroh klärte mich auf, in praxi, im Kindergarten:

Diesmal nimmt klein Michael den Tom aufs Korn: "Das geht so nicht!" - "Wieso nicht?" - "So macht man es nicht. Und wenn man es nicht macht, wie man es machen muss, dann geht es gar nicht." Anna greift ein: "Michael, jetzt lass den Tom doch mal machen. Vielleicht geht es so auch!" - Und zu mir: "Schau, der Michael meint, es gebe einen bestimmten Weg [Zur Verdeutlichung kritzelt sie - ganz Kindergärtnerin - ein μεϑοδοσ auf einen herumliegenden Pappdeckel], dem man folgen müsse, um das Ziel zu erreichen. Alle andern Wege führen für ihn a priori [Anna, ich mag dich] nicht zum Ziel. Und genau hier schleudert der freundliche Paul sein "Anything goes" in die Szene: 'Lass dich nicht einschüchtern, Tom. Probier's einfach. Niemand kann von vornherein wissen, dass es nicht doch klappt.'"

Ich bedankte mich bei Anna mit einer Einladung zum Nachtessen, wo sie mir weitere Dinge von ihrem geliebten Paul erzählte: "Er war der konsequenteste Popperianer. Eine Theorie verführt dazu, nur nach einer bestimmten Art von Gegeninstanzen zu suchen. Darum ist es so wichtig, nach andersartigen Theorien, die neue mögliche Gegeninstanzen zu Tage fördern, Ausschau zu halten. Ein auf eine bestimmte Methode eingeschworener Fallibilist ist eine contradictio in adjecto [Ich war im Begriff, mich zu verlieben]. By the way: Die Leute, die Paul an seinem berühmtesten Satz aufhängen, haben natürlich keine Zeit, das Buch zu lesen. Aber ist es denn zu viel verlangt, dass man wenigstens mal einen kurzen Blick auf den Titel wirft? - Magst du den Feyerabend?" - Ich lenkte ab und um: "Für mich bist du die grösste Philosophin!" - Anna nahm mir diese Plumpheit nicht übel.

Against Method

Der Sänger, von dem eingangs die Rede war, bringt gern zur Sprache, was durch die Maschen der Methode schlüpft. "Dem methodischen Verfahren steht ... die Sache einzig noch als störender Inhalt gegenüber." Auf die totale Vereinnahmung dieser widerspenstigen Sache richte sich die ganze (Arbeits)Wut der Ursprungs - und/oder Identitätsphilosphien, die nicht aufhören könnten, die Brüche und Gräben, die ihr einebnendes Vorgehen immer wieder aufreisse, systematisch zu leugnen. - Wau! Ich bin ja ganz dialektisiert! Aber hören wir uns doch besser noch ein wenig ins Original rein:

Ihre [der Ursprungsphilosophien] Geschlossenheit ist selber der Bruch. Daher die fanatische Intoleranz der Methode, der totalen Willkür, gegen alle Willkür als Abweichung. Ihr Subjektivismus richtet das Gesetz von Objektivität auf. Die Herrschaft des Geistes glaubt nur als grenzenlose sich selber.

Dem Sicherheitsbedürfnis, das allen Philosophien, die auf einem Ersten, einem Ursprung, etwas unbezweifelbar Feststehendem und so Zeugs insistieren, hält unser Sänger entgegen:

Warum eigentlich sollte das spielerische Glück des Geistes vom Risiko des Irrtums gemindert werden?

Mittwoch, November 16, 2005

Rubrik: Eintagsfliegen

[Vielleicht interessiert es ja den einen oder andern, wie die von mir gestern angekündigten Wortgefechte mit meinen türkischen Arbeitskollegen ausgegangen sind.]

Nun, wie das Leben halt so spielt: Zuerst gab es ein bisschen Ärger mit nicht-türkischen Kollegen. Schon bald stellte ich, wie so oft, gerade noch rechtzeitig fest, dass der Tag durch eine zusätzliche Portion Ärger aus dem Gleichgewicht kippen könnte. So begrüsste ich Hassan, unsern Mann aus Ankara, mit einem "Bugün futbol hakkında konuşmayalım!" ("Lass uns heute nicht über Fussball sprechen!") - "Aber warum denn nicht? Hast du nicht gesehen? Ich habe gewonnen! Ich war in der Zeitung!" - Hassan hat sich also am Samstag in seinem Club das Spiel angeschaut, als ein Reporterteam vorbeischaute und ihn nach seiner Meinung zum Spiel befragte. In der Zeitung erschien dann auch ein Photo von ihm, und sein allerbester Satz - Hassan geizte nicht mit Bewunderung für das Team, das es geschafft hatte, unter den vielen tollen Sätzen den allerbesten herauszufischen - bildete den Titel des sehr interessanten Artikels. Nun, mein Ärger war dann irgendwo. Hassans strahlender Stolz beherrschte die Szene. Und wer sich nicht mitzufreuen vermag, hat alleweil das Nachsehen. Alles in allem verlebte ich einen recht gelungenen Tag.

Ich schiebe noch ein paar kleine Reflexionen hinterher:

Es ist nicht so einfach, auf einen Ausländer, in dessen Herkunftsland die eigene Nationalelf äusserst respektlos behandelt wurde, böse zu sein, wenn man imstande ist, mit ihm ein paar Worte in seiner Landessprache zu wechseln. Nur schon die Freude darüber, dass man dazu imstande ist, kann einem einen Strich durch die Rechnung machen.

Es ist nicht einfach, Ärger und Wut mit einem Landsmann zu teilen, der bloss verbiestert schimpft und einem sattsam bekannte Sprüche auftischt, die er dann pausenlos wiederholt, weil ihm in seiner unedlen Einfalt halt nichts anderes einfällt. Bei allem aufrichtigen Willen, mit den Wölfen - in Abwesenheit jeder Spur von political correctness und weil es halt machmal so gut tut - kräftig mitzuheulen: Es ist auf die Dauer einfach zu langweilig.

Dienstag, November 15, 2005

Rubrik: Tagesgeschehen

Ich schaue fern.

Fussball ist schön. Die Türkei ist schön. Unsere Nationalhymne ist schön, und der Patriotismus ist nur schon darum eine schöne Sache, weil der Patriot den Patriotismus des andern so gut versteht. "... seh ich dich im Fahnenmeer." Meine Frau ist an den äussersten Rand des Sofas vorgerückt. Doch bevor sie aufsteht und die Händchen haltenden Sänger stimmkräftig unterstützt, wendet sie sich lachend an ihr vor Nervosität zappelndes Männlein und tätschelt beruhigend sein Knie. Zuberbühler begräbt den ersten Ball sicher unter sich. Er wird ihn nicht so bald wieder in die Hände kriegen. Ein schöner Samstagabend.

"Das war schon vor 40 Jahren so."


Istanbul ist wunderschön. Bevor unsere Nationalspieler die Stadt zu sehen bekommen, müssen sie noch Passkontrolle und Gepäckabfertigung hinter sich bringen. Die Kamera filmt einen Beamten, wie er den Pass eines Spielers studiert. Erste Seite, zweite Seite, dritte Seite ..., vorletzte Seite, letzte Seite. Ein abschliessender Überblick. Ein paar Fragen an den Spieler. Rückversicherungen. Der Spieler hat es geschafft. Sein Gepäck wird er wie alle andern nicht ausgeliefert bekommen. So darf er denn unbeschwert, im Schutze eines Polizeikordons, das Flughafengebäude verlassen. Für das erste geplante Training reicht es zeitlich nicht mehr. - Ein Satz Köbi Kuhns ist hängen geblieben. "Das war schon vor 40 Jahren so."

"Kırk yıl önce de öyleydi." - Ein Satz, der es in sich hat. (Eine freie Übersetzung wie "Das sind Bauern", bezogen auf Beamte einer stolzen, modernen Republik, dürfte seine gebührende Wirkung auf ein türkisches Gemüt nicht verfehlen.) "Ne diyorsun?" "Was sagst du dazu?", werde ich meine türkischen Arbeitskollegen morgen fragen. Das "Anneni sikiyorum" ("Ich ficke deine Mutter") einiger türkischer Fans und Ähnliches hätte ich ja noch durchgehen lassen. Aber für das Verhalten der Beamten werden die freundlichen bis charmanten armen Teufel büssen müssen. Da ist dann nix mehr mit anderes Kultur und so. Vor Kulturunterschieden braucht man ja nicht unbedingt schweigend zu knien. Man kann sie, wenn's denn sein muss, auch konkret beschreiben. Und der Beschreibungen gibt es bekanntlich viele. Insbesondere kann man auf Grenzfälle aufmerksam machen und etwa die Frage aufwerfen, ob der Begriff hier überhaupt noch anwendbar sei usw. usf.

In freudiger Erwartung interessanter Wortgefechte

Philotustan

Buchprojekt: Anerkennung

Ich schaue fern.

Rashid, ein sympathischer junger Maghrebiner, erklärt einem Reporter in sanftem Tonfall und klaren Worten, warum er in der letzten Zeit das eine oder andere Auto angezündet hat. Ich erkenne keine Spur von Militanz oder Gehässigkeit, kein Sich-Aufspreizen, keine Siegerpose, kein blödes Grinsen. Rashid ist für mich eine einzige Ent-täuschung. Er sitzt da, zuckt mit den Schultern. Was habt ihr denn erwartet? Es gibt mich/uns. Und jetzt ist diese Botschaft offensichtlich angekommen. Viel zu erklären gibt es nicht. Schau mich an. Du musst ja nicht alles auf einmal begreifen. Es ist gut, dass du mir eine Frage stellst. Ich antworte dir gern.

In den Vororten kommt so einiges zusammen. Der Hauseingang eines Wohnblocks. Es gibt kein Licht. Graffitis auf abgefackelten Wänden. Stümpfe von einstmaligen Sitzgelegenheiten. Das ist nicht bloss trostlos, das ist furchterregend. Denn nicht immer ist das ein Ausdruck ohnmächtiger Zerstörungswut und dergleichen. Zuweilen steckt ein völlig rationales Verhalten dahinter: Licht ist nicht gut fürs Geschäft. Und wenn du mit dem Herrn von 34A3 quatschen willst, dann tu das, Mann. Aber hier ist nicht der Ort dazu. Ok? Die Geschäftsherren, die sich auf diese Weise einen Standortvorteil sichern, wohnen übrigens nicht im selben Vorort. - Es kommt da halt so einiges zusammen. Die Normalität ist ja auch ein weites Feld. - Beweg deinen Arsch, Mann, hier gibt es nichts zu sehen.

Montag, November 14, 2005

Rubrik: Tagespolitik

Die vorherrschenden Bilder, die uns zur Zeit aus Frankreich erreichen, sind die von Feuerwehrleuten, die gerade noch nicht vollständig ausgebrannte Fahrzeuge zu löschen versuchen. Diese werden gezählt, und die Zahlen der letzten Nacht mit denen der vorigen Nächte verglichen. Weil die Zahlen im Moment sinken, hofft man, dass die Fahrzeuge künftig gar nicht erst angezündet werden. Bis es aber so weit ist, werden wir wohl weiterhin Bilder von Feuerwehrleuten zu sehen bekommen, die Nacht für Nacht die Brennzeit von Fahrzeugen zu verkürzen sich abmühen. - Man verstehe den komplett ratlosen Verfasser dieser Zeilen nicht falsch: Das hat ganz und gar nichts Lächerliches an sich.


Der Aufschub
 
Bei dem berühmten Ausbruch des Helgafell, eines Vulkans
auf der Insel Heimaey, live übertragen von einem Dutzend
hustender Fernsehteams, sah ich, unter dem Schwefelregen,
einen älteren Mann in Hosenträgern, der, achselzuckend
und ohne sich weiter zu kümmern um Sturmwind, Hitze,
Kameraleute, Asche, Zuschauer (unter ihnen auch ich
vor dem bläulichen Bildschirm auf meinem Teppich),
mit einem Gartenschlauch, dünn aber deutlich sichtbar,
gegen die Lava vorging, bis endlich Nachbarn, Soldaten,
Schulkinder, ja sogar Feuerwehrleute mit Schläuchen,
immer mehr Schläuchen, gegen die heiße, unaufhaltsam
vorrückende Lava eine Mauer aus naß erstarrter
kalter Lava höher und höher türmten, und so
zwar aschgrau und nicht für immer, doch einstweilen,
den Untergang des Abendlandes aufschoben, dergestalt,
daß, falls sie nicht gestorben sind, auf Heimaey,
einer Insel unweit von Island, heute noch diese Leute
in ihren kleinen bunten Holzhäusern morgens erwachen
und nachmittags, unbeachtet von Kameras, den Salat
in ihren Gärten, lavagedüngt und riesenköpfig,
sprengen, vorläufig nur, natürlich, doch ohne Panik.

[H. M. Enzensberger]

Samstag, November 12, 2005

Aus dem Tagebuch des trockenen Alkoholikers

Der trockene Alkoholiker hat drei Regeln:

Du bist entmündigt!

In Fragen des Alkoholkonsums ist deine Meinung vollständig irrelevant. Die andern haben immer recht. Wer meint, es gebe für den Alkoholiker sowas wie ein Trinken mit Mass, hat recht. Wer meint, schon das erste Glas führe innert kürzerster Zeit zum Absterbens Amen, hat recht. In diesem Punkt musst du gnadenlos sein. Jeder hat recht. Auch du hast natürlich recht, wenn du in sorgfältigster Analyse herausfindest, dass nur dieses eine Glas zum Essen die Welt vor der unmittelbar bevorstehenden Katastrophe retten kann. Schreibe ein Buch dazu, missioniere mit ihm, verbreite dich darüber in zig Talkshows, halte Lesungen. Alles ok. Und dann lässt du einfach das erste Glas hübsch stehen. (Nur jeweils das erste. Und nie das zweite vor dem ersten trinken.)

Es geht nicht um das eine Glas!

Sondern um ein Verhalten. Lass alle Meinungen über das eine Glas gelten. Sie sind völlig irrelevant. Es geht bei dir nie um das eine Glas.

Schiebe die Frontlinie möglichst weit von dir weg!

Die Flasche hat in deinem Haushalt nichts zu suchen. Vermeide den Nahkampf. Der Krieg gegen den Alkoholismus ist vorbei. Die Kapitulation unterschrieben. Es lebe der Krieg! Der gegen den Alkoholkonsum. Du stehst weit von der Frontlinie entfernt. Beobachtest ihren Verlauf. Korrigierst ihn durch den Einsatz angemessener Mittel (Granaten, Neutronenbömbchen, etc). Und kommt dir ein feindlicher Soldat zu nahe, verhalte dich wie ein Navy Seal: Tu genau das Notwendige, ruhig, überlegt, keine überflüssige Bewegung, keine Notwendigkeit, nochmal nachzuschauen, ob sich der andere noch rührt, volle Konzentration auf einen nächsten Angreifer. Dann Abspannen. Ausspannen. Spielen. Deinen Charme spielen lassen. Freundliche Unterhaltungen mit Freunden geniessen. Und wieder töten, bedenkenlos, unbekümmert.

Rahatına iyi bak!
Schau gut zu deiner Gemütlichkeit!

Donnerstag, November 10, 2005

Rubrik: Philosophische Propädeutik

"Ja, aber das kann man doch nicht trennen!"


"Freilich, aber Unterscheidungen treffen dürfen wir schon." - Vergleiche:
Den Kopf vom Rumpf unterscheiden.
Den Kopf vom Rumpf trennen.

[Das hübsche Beispiel findet sich bei Herbert Schnädelbach: Hegel zur Einführung. Ein wunderbares Büchelchen!]

Rubrik: Fragen (i. Gs. zu Leserfragen)

Mitunter ist die Rede von Sinnkrise, Orientierungskrise und so'n Zeugs. Frage: Was fehlt in einer Gesellschaft, in der kein Sinn herrscht?

Rubrik: Fragen (i. Gs. zu Leserfragen)

Zu dir kommt ein Atheist und gesteht, er habe zuweilen das Bedürfnis zu beten. Was sagst/rätst du ihm?

Mittwoch, November 09, 2005

Rubriken: Zitate, Äesthetik

Ich glaube, dass der Sinn der Kunst jenes innere Feuer ist, welches das Herz des Menschen entflammt, und nicht ihre oberflächlichen öffentlichen Erscheinungen. Das Ziel der Kunst ist nicht die Auslösung eines vorübergehenden Adrenalinstosses, sondern ein kontinuierlicher, das ganze Leben dauernder Aufbau eines Zustandes des Staunens und der Heiterkeit.

[Glenn Gould]

Rubrik: Moralphilosophie

"Ich habe mit den Leuten nichts zu schaffen."


Der Satz wird hier als unmoralische Maxime dargestellt, die es einem als solche zuweilen ermöglichen mag, sich ein Mimimum Morale zu bewahren. (Aber natürlich ist die Chose viel, viel komplizierter. Und es fragt sich, wer besser mit ihr fertig wird, der Hegel at his best oder mein schreibfauler Jan.)

Ein deutscher Schriftsteller [Stefan Heym?] darüber, wie er 1933 erlebt hat: Grosser Platz. Fackelzüge nähern sich aus sternförmig auf ihn einmündenden Strassen. Fahnen. Uniformen. Lieder. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Der Schriftsteller fühlt sich von den andern völlig abgetrennt. Er fühlt, dass er mit diesen Leuten nichts zu tun hat.

In den Abendstunden versammelt der Wahlhelfer, Philosophieprofessor und Rektor der Universität Freiburg i. Br., Martin Heidegger, seine Studenten auf dem Campus. Unter ihnen die Schweizer Studentin Jeanne Herrsch, die beim Anführer der nationalen Veranstaltung studiert, weil sie vor Ort erfahren will, was los ist. Es waltet da so manches. Am Ende wird das Horst-Wessel-Lied angestimmt. Die Arme gehen hoch. Die jüdische Studentin muss sich Mühe geben, ihren Arm unten zu behalten. Verwundert/eschrocken stellt sie fest, dass sie in den allgemeinen Gesang eingestimmt hat.

Rubrik: Zitate

Die Freude an meinen Gedanken ist die Freude an meinem eigenen seltsamen Leben. Ist das Lebensfreude?

[Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. (Zitiert aus dem Tagebuch des trockenen Alkoholikers)]

Dienstag, November 08, 2005

Rubrik: Lebensweisheit

Was darfst du vom Leben erwarten?


Nun, wir knüpfen allerhand Erwartungen an das Leben. Ich will hier realistisch bleiben: Du darfst vom Leben erwarten, ein glücklicher Mensch zu werden.

Die Voraussetzungen dazu hast du: Du bist frei, und du kannst dich deines Verstandes bedienen.

Du kannst tun und lassen, was du willst, solange du willst, so intensiv, wie du willst. In diesem Punkt lasse ich keine Ausreden gelten. Mit den unzähligen Einwänden, die an dieser Stelle erhoben werden, mache ich kurzen Prozess: 1) Sie sind alle richtig. 2) Die Dinge, die in diesen Einwänden beschworen werden, sorgen für sich selber. Du brauchst sie nicht zu hegen und zu pflegen. Zuständig bist du nur für das, dem sie im Weg (zu) stehen (scheinen): dein Lebensglück.

Wer klug ist, konzentriert sich auf Dinge, zu denen er befähigt ist und die er mit seinem Willen beeinflussen kann.

Beispiele: 1) Du bist in hohem Masse befähigt zu denken. Also nimmst du dir jede Zeit der Welt dafür. 2) Du bist nicht in der Lage, die Liebe eines andern Menschen zu erzwingen. Also investierst du so wenig als möglich darin. Du akzeptierst die Situation ohne Wenn und Aber, ohne zu rechten, ohne Vorwurf, ohne zu verbittern. Und weil du dann ein grosses, tapferes Mädchen bist, das ein liebes ist und nicht schwierig tut, darfst du zur Belohnung - wie ein kleines Mädchen - in aller Freiheit das tun, was du gern tust, worin du gut bist, und was keine Macht der Welt dir wegnehmen kann.

Und nochmal: Schiefgegen tut alles von allein. Du brauchst nicht nachzuhelfen. Besinn dich auf dein Kerngeschäft, den verständigen Gebrauch der Freiheit.

Montag, November 07, 2005

Aus dem Tagebuch des trockenen Alkoholikers

[Zur Erinnerung: Die sporadisch eingestreuten Eintragungen aus dem Tagebuch des trockenen Alkoholikers stammen aus den Anfängen seiner nun schon gut 15 Jahre andauernden Trockenperiode, als es für ihn um nicht weniger als eine Neuerfindung seines Lebens ging.]

X: Ei, was zum Henker, sag, du grosser Sänger!
Was ist mit deinen Zeh'n? Wie siehst du aus?
Y: Ja, seht. Zum Stehen braucht's doch mehr als Fersen.

[Literarisches Rätsel: Was diente mir hier als Vorlage? Wer als erster die richtige Antwort gibt, darf das Thema des nächsten Blogs bestimmen. Teilnahmebedingung: Nur Antworten in Kommentarform können berücksichtigt werden.]

Der Fersensteher


Das Adagio aus dem Klavierkonzert Nr. 21 in C-Dur, gespielt von Arthur Schnabel, dem genialen Rhythmiker.

So musst du singen! Weniger auf den Schönton aus sein. Nicht schon beim Auftakt in Rücklage geraten und die Eins dann bloss aufwerfen, in der kläglichen Hoffnung, dass sie dir nicht auf die Füsse fällt. Die Eins anspringen und fortschleudern. Und nachsetzen, dran bleiben, nichts fallen lassen, den Bogen halten, bis er sich von selbst langsam neigt; nicht abstürzen lassen.

Das alles kannst du nicht, wenn du auf den Fersen stehst, allzeit bereit, dich wegzudrehen. (So stehst du in der Welt. Ein Fersensteher.) Wenn du singen willst, musst du den Ton schon packen. Wenn du etwas sagen willst, dann tu's. Und wenn du nichts sagen willst, dann lass es. Wenn du stehen willst, dann steh auf den Füssen.

Du bist nicht trocken geworden, um sicher auf den Fersen stehen zu können.

Sonntag, November 06, 2005

Rubrik: Anerkennung

Da hat einer eben damit begonnen, das, was man Ansätze zu einer eigenen Philosophie nennen könnte, ernst zu nehmen und es in der angemessen bescheidenen Form von Blogs einem kleinen Kreis von Lesern mitzuteilen, da entdeckt er schon kleine Übereinstimmungen oder Parallelitäten mit bedeutenden Autoren, die sein Schöpferherz für Augenblicke höher schlagen lassen, zumal dann, wenn es sich um Autoren handelt, die er über die Jahre hinweg lieb gewonnen hat. Es sind viele süsse Kleinigkeiten, durch die ein Autor sein Herz gewonnen hat, Kleinigkeiten, die ihn bei der ersten Lektüre entzückt haben mögen, die aber gleichwohl irgendwo im grossen Erinnerungsraum untergetaucht sind. Und nun, da er selber zu schreiben begonnen hat, springen sie ihm zuweilen beim blossen Herumstöbern in einem Text in die Augen. - Der Autor, dem solches soeben wiederfuhr, hat in der Anerkennung sein Thema gefunden.

Jukebox


Von den drei "Versuchen" Peter Handkes ist der "Versuch über die Jukebox" der thematisch unscheinbarste und gleichzeitig reizvollste. Handke wollte darin "festhalten und gelten lassen, was ein Ding einem bedeuten und, vor allem, was von einem blossen Ding ausgehen konnte". [Hervorhebungen von Philotustan]

Rubriken: Metaphysik, Buchprojekt: Der kluge Hausherr: Der trockene Alkoholiker

"Die Beatles oder die Stones?", bedrängte erwartungsvoll der pubertierende Philotustan seine ersten Flammen? - Die Beatles mochten die besseren/bedeutenderen Musiker sein, die Stones waren dreckiger.

"Die Carmen oder den Ring?", befragt Nietzsche seine Kollegen, um zu erfahren, wie sie im Leben stehen. - "Den Fidelio", kommt es aus Ernst Bloch geschossen. Der Schuss ging voll daneben. Beim Thema bleibt der Alkoholiker: "Die Götterdämmerung", schmachtet er, "Trauermarsch und folgende. Die Welt ist verdorben. Mag sie im Rhein baden gehn!"

Nüchternheit


"Hört euch das an!" - Der trockene Alkoholiker bringt seinen Lieblingsgesang zum Vortrag:

[Während er Anlauf holt: Friedrich Nietzsche: Menschliches. Allzumenschliches. I, 34 ("Nachwirkung der Erkenntnis"). Der junge Nietschze der "positivistischen" Phase, der fröhliche Wissenschaftler, der nach bacchantischem Taumel bei der "Geburt" aus wissenschaftlichen Erkenntnissen Funken schlägt.]

Man lebte zuletzt unter den Menschen wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu ... ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche ... in ihren Äusserungen nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge - jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben.

Der trockene Alkoholiker ist ein eingefleischter Materialist der alten Schule. Die einschlägige Formulierung seiner metaphysischen Grunderfahrung findet er im "Woyzeck": "Meine Seele, meine arme, unsterbliche Seele stinket nach Branntewein." "Gottfried Keller mag es ähnlich ergangen sein", fügt er hinzu und beginnt zu schweifen: "Schon klar. Es gibt edlere Weltanschauungen. Die sind auch nicht, wie gelegentlich behauptet wird, lebensfeindlich. Aber öfter mal lebensgefährlich. Vor Idealisten muss man sich in acht nehmen." Da wird er schon von Jan unterbrochen: "Zum Glück sind die meisten von denen etwas weltfremd. Und solange die nicht zu sagen haben, wo es lang geht, sind sie ja harmlos."

Und munter plätschert das Gespräch. Es ist Sonntagabend. Die Welt ist in Ordnung.
In Erwartung eines Blauen Montags

Philotustan

Rubrik: Ästhetik

ΑΛΗΘΕΙΑ


Die Suche nach einer unverbrauchten Wendung. Keine Frage des Schöntons. Um Wahrheit geht's. Eine verbrauchte Formulierung, sinn(ge)(über)laden, verstellt den Raum, wo etwas Neues erscheinen könnte. Eine (gelungene) (treffende) (unverbrauchte) Wendung tut zumindest dies: Sie schafft unverstellten Platz. Wahrheit emphatisch: unverstellter Platz.

αληθεια (Betonung auf der drittletzten Silbe): Wahrheit
α: alpha privativum (= [lat.] in)
λανθανω: verborgen sein, unentdeckt sein/bleiben, jdm. entgehen

Jan: "Du meinst, ich verpasse was, wenn ich nicht wortmässig ein bisschen Abwechslung in meinen Speech bringe?" - "Ja! Und zwar mordsmässig!"

Samstag, November 05, 2005

Rubrik: Hegel

Du willst die "Phänomenologie des Geistes" lesen und fragst dich vielleicht, womit du beginnen willst, mit der 'Vorrede' oder mit der 'Einleitung'. Hier meine Antwort: Es spielt keine Rolle. Hauptsache ist, dass du zuerst die 'Phänomenologie' liest. Bleibt nur noch anzumerken, dass du vorher die 'Vorrede' verstanden haben solltest. Dafür aber ist die Lektüre der 'Phänomenologie' natürlich abdingbare Voraussetzung.

Hegel lesen


Ich habe mir wieder mal die Vorrede vorgenommen. Sie gilt einigen als Einführung ins Hegelsche System überhaupt. Da stellt sich natürlich sofort die Frage, womit man beginnen sollte. Meine Antwort: Man nehme den 4. Abschnitt. - In der bewährten Manier des alten Meisters soll dieses Rezept nicht vor-läufig begründet werden. Vielmehr soll dessen Richtigkeit sich aus seiner Anwendung, oder dem Resultate derselben, ergeben.

1. Satz:

Der Anfang der Bildung und des Herausarbeitens aus der Unmittelbarkei des substantiellen Lebens wird immer damit gemacht werden müssen, Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte zu erwerben, sich nur erst zu dem Gedanken der Sache überhaupt herauf zu arbeiten, nicht weniger sie mit Gründen zu unterstützen oder zu widerlegen, die concrete und reiche Fülle nach Bestimmtheiten aufzufassen, und ordentlichen Bescheid und ernsthaftes Urteil über sie zu erteilen wissen.

Wir haben ein Stück Musik gehört. Nun wollen wir etwas Substantielles dazu sagen. Wir treffen einige Vorbereitungen: Wir eignen uns Prinzipien an (einen Abriss der Harmonielehre und des Kontrapunkts etwa), vermeiden Einseitigkeiten, indem wir weitere Gesichtspunkte (Fragen der Agogik oder der historischen Aufführungspraxis etwa) hinzuziehen, nehmen kritisch (unterstützend und widerlegend) Stellung zu Thesen über die funktionale Bestimmung einzelner Akkorde etwa sowie über deren Funktion im Rahmen des Ganzen. Natürlich werden wir ab und zu konkreter und greifen aus der reichen Fülle Passagen heraus, die wir schwerpunktmässig nach den verschiedenen Gesichtspunkten analysieren (nach Bestimmtheiten auffassen). Natürlich gehören auch Kenntnisse über des Komponisten Leben und Werk sowie den historischen Hintergrund und dergleichen dazu. So wissen wir denn ordentlich Bescheid, und wir sollten es schaffen, dass unser vorläufiges Urteil ernsthaft in Betracht gezogen wird. - Na ja! Mit irgendwas muss man ja beginnen. Jeder hat mal irgendwo angefangen!

2. Satz, Teil 1:

Dieser Anfang der Bildung wird aber zunächst dem Ernste des erfüllten Lebens Platz machen, der in die Erfahrung der Sache selbst hineinführt, ...

Im ersten Schritt hat das naive Bewusstsein eben erst die Stufe von Georg Kreislers Musikkritiker erklommen, dessen mangelnde Musikalität den Konzertbesuch für ihn zur Plage werden lässt, oder es erreicht eben das Niveau eines ordentlichen und ernsthaften Rezensenten, den noch nicht Lektüre in die Erfahrung der Sache selbst hineingeführt hat. Diese Charakterisierung des ersten Schritt dürfte uns einen deutlichen Hinweis darauf geben, was uns im zweiten erwartet.

2. Satz, Teil 2:

..., und wenn auch diss noch hinzukommt, dass der Ernst des Begriffs in ihre Tiefe steigt, so wird eine solche Kenntniss und Beurtheilung in der Conversation ihre schickliche Stelle behalten.

Dazu zuerst eine philosophiehistorische Bemerkung:

Hier erkennen wir den Ansatzpunkt der Erkenntnislehre des späten Philotustan mit ihrem ständigen Widerspiel zwischen einer Haltung, die sich der Sache buchstäblich ausliefert, und einer solchen, die gezielt - mit den im ersten Schritt erworbenen und nach anfänglicher Erfahrung mit der Sache stetig verfeinerten Mitteln - auf ihren Gegenstand zugreift. (Näheres dazu im Artikel "Zugriff und Gelassenheit. Ein Navy Seal hört Anton Webern".) - "Der Ernst des Begriffs steigt in ihre [der Sache] Tiefe. Wie geht das?" - Ich fragte Philotustan danach. Seine Antwort: "In tiefer Nacht an seinem Flügel sitzend, vergräbt Glenn Gould sich wieder und wieder in Wagners 'Vorspiel und Liebestod'". Anschliessend erklärt er, er sei weder Wagner-Spezialist (1. Stufe) noch Wagnerianer (2. Stufe)." Wenn ich Philotustan richtig verstehe, meint er damit, dass Glenn Gould eine Stufe erreicht hat, in der die beiden ersten Stufen als bestimmt negierte zugleich aufgehoben im Sinne von aufbewahrt sind.

Zweite Bemerkung:

Hegel ist ein freundlicher Philosoph. Haben wir uns mal ernsthaft auf eine Sache eingelassen, dürfen wir unsere Bildung der 1. Stufe im geeigneten Rahmen ohne Schamgefühl zeigen. Unsere Ausführungen zur Stimmführung im Kontrapunkt Palestrinas etwa würden bei ihm als schicklichen Beitrag zur Konversation glatt durchgehen. Wie wir schon wissen, mag er Demut und Bescheidenheit. Bloss den Hochmut kann er nicht ausstehen.

Rubrik: Religionsphilosophie

Wir befinden uns im alten Rom. Das gesamte religiöse Leben ist geprägt von unzähligen Opferritualen. Für alles und jedes - die Fruchtbarkeit, den Krieg, das Fieber - gibt es Götter, die nach Opfergaben lechzen. - Und dann gibt es da eine kleine Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder von dem einen Gott sprechen. Sie zeichnen sich nicht etwa durch überragende Leistungen aus. Sie investieren nicht nützliche Güter in die Gunst dieses Gottes. Denn der gibt alles umsonst. Er verlangt keine Gegenleistung. Die Mitglieder dieser seltsamen Glaubensgemeinschaft nennen ihn den "Gott der Liebe". - Der "Sohn" dieses Gottes, der erst kürzlich in Menschengestalt auf der Erde gewandelt sein soll, ist die Verkörperung dieser grenzenlosen Liebe. Er hat seine "Jünger" nicht nach Leistungskriterien ausgewählt. (Die meisten sollen einfache Fischer gewesen sein.) Seiner Freigebigkeit und Nachsicht sind keine Grenzen gesetzt. Die Geschichten, die seine Anhänger von ihm erzählen, sind befremdlich, realitätsfern, ärgerlich. Auch unglaubwürdig. Bis auf die eine Geschichte, die gut belegt ist: Er hat sich doch tatsächlich - aus Liebe, wie es heisst - zusammen mit zwei Verbrechern kreuzigen lassen. Auch unser Statthalter in Palästina hat die Welt nicht mehr verstanden.

Das Wesen des Christentums


Kein Zweifel: Der Kern der christlichen Botschaft, die eine frohe sein will, ist der Auferstehungsglaube. Doch will ich hier nicht über Glaubensfragen sprechen. Ich will überhaupt alles Gewichtige weglassen. Schreiben will ich nur von einer nicht zu überbietenden, den Verstand zerrüttenden Leichtigkeit. Von der Ausgeburt eines Leichtsinns, der aus einer unermesslichen Fülle kommt und aller rechtschaffenen Massstäbe spottet.

Gott ist gross. Du bist klein. Und er liebt dich.

Du brauchst dir Gottes Liebe nicht zu erkaufen. Du brauchst dich auch nicht besonders liebenswürdig anzustellen oder dich als seiner Liebe würdig zu erweisen. Er kann es ja nicht lassen: Er ist ein unerschöpfliches, überströmendes Füllhorn. Keiner ist vor seiner Liebe sicher. Jeden kann es jederzeit treffen. - Tja, es ist zu simpel, empörend, unsinnig simpel. Wer es fassen kann, der fasse es.

Freitag, November 04, 2005

Rubrik: Politische Philosophie

[Es erscheint nun der hier in meiner Antwort zu einem Kommentar von 'ur' angekündigte Blog:]

Kurze Einführung in den Marxismus.

Unter besonderer Berücksichtigung seiner gesellschaftlichen Zielvorstellung. Unter (fast) völliger Vernachlässigung der Mittel, mit denen das Ziel erreicht werden sollte.

Nach einem mehr oder weniger idyllischen Urzustand setzte ein Jahrtausende dauender Zustand mühsamer Plackerei ein. Marx nennt diesen Zustand das "Reich der Notwendigkeit". Dieses gebiert schliesslich einen riesigen Maschinenpark, der die Schufterei überflüssig macht. So entsteht das "Reich der Freiheit". Der Alltag eines Bewohners dieses Reiches mag dann - frei nach Marx - etwa so aussehen: Einen Artikel lesen, einen Blog schreiben, einkaufen gehen, ein Bad nehmen; in selbständiger Tätigkeit eine kleine Dienstleistung, eine philosophische Beratung etwa, anbieten; Maschinenwartung (Wir sind ja nicht im Urkommunismus).

Zur Verteidigung des Kommunismus


Ich kann die Bedenken ja verstehen. Wer eine Vollzeitstelle hat, arbeitet täglich 8 Stunden. Die Arbeitswoche hat 5 Tage. Es gibt Feiertage, (un)bezahlten Urlaub, Ferien. Gartenarbeit und die Versorgung von Vieh sind allenfalls Hobbies. Die langen, mühsamen Waschtage gehören der Vergangenheit an. Der Zeitaufwand für Kochen und Heizen übersteigt nicht mehr den einer Halbzeitstelle. Kurz: Das Problem besteht darin, dass die Freizeit rapide zugenommen hat. Doch zum Glück hat der junge Karl Marx ein paar konkrete Lösungsvorschläge anzubieten: Wir können Bücher lesen, jagen, fischen ... . Und zur Not fällt uns selber auch noch was ein: Ausflüge, Joggen, TV, Computerspiele, Parties, ... . Dazwischen gibt es ja immer noch - ich bin wieder bei Marx - die Maschinenwartung.

Zugegeben: Gerade die Maschinen verschärfen das Problem. Doch was sind die Alternativen? 16 Stunden schuften, um gerade das zum Leben Notwendige zu haben, dann ein paar Stunden schlafen, um wieder 16 Stunden schuften zu können? Über den Resozismus (Hans Magnus Enzensberger für "real existierender Sozialismus") brauchen wir nicht mehr zu debattieren. Wenn wir jahrzehntelangen Stillstand wollen, schaffen wir das auch ohne Fünfjahrespläne. Auf das Proletariat brauchen wir nicht mehr zu zählen. Es mag noch Leute geben, die sich als seine Vertreter fühlen, das Proletariat selber ist von der Bildfläche verschwunden.

Der Kapitalismus hat mit dem Kommunismus sein höchstes Stadium erreicht. Der Kommunismus hat sich von der Wissenschaft zur Realität entwickelt. Er wird von niemandem angestrebt und von den allermeisten sehr geschätzt. (Die Betonung mag im einzelnen verschieden sein. Ich zum Beispiel bevorzuge seine freisinnige Variante, bin mir aber natürlich voll bewusst, dass ich mit Bundesrat Blocher etwa oder dem Gewerkschaftspräsidenten Paul Rechsteiner im Grundsatz übereinstimme. Das mag freilich allzu selbstverständlich erscheinen. Die Debatte über diese Fragen wird ja auch nicht mehr geführt.) Die Zukunft hat schon lange begonnen. Wir sollten uns damit einfach abfinden.

Fortsetzung folgt

[Aber bloss, wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass jemand gewichtige Einwände erhebt.]

Donnerstag, November 03, 2005

Rubrik: Politische Philosophie

In seiner Kolumne in "Die Welt" vom 2. Nov. 2005 wirft Jeffrey Gedmin, Direktor des Aspen Instituts Berlin, eine interessante Frage auf:

Die Schuhputzfrage


Würdest du dir die Schuhe putzen lassen? - "Die Antwort auf die Schuhputzfrage beinhaltet alles, was man über die Wirtschafts- oder vielleicht sogar die Lebensphilosophie eines Menschen wissen muß."

Gedmin teilt dann mit, wo in Washington und New York er sich vom wem die Schuhe schon hat putzen lassen. Es sind kleine, durchaus nicht unsympathische Erzählungen. Dann gibt er seine persönliche Antwort auf die Frage: "Ich lasse gerne die Schuhe polieren. Ich bekomme etwas, der Schuhputzer verdient etwas, und wir beide sind zufrieden mit Transaktion und Interaktion. Für mich ist das Kapitalismus pur."

Ich habe mir mal in Kayseri (Zentralanatolien) von einem Jungen die Schuhe putzen lassen. Er war ganz aufgeregt, wollte alles Mögliche von mir wissen, quittierte mein halbherziges "Fenerbahce" mit einem herzhaften "Pfui!" (Für Unkundige: Die richtige Antwort hätte "Galatasaray" gelautet) und war überhaupt nicht richtig bei der Sache. Natürlich war das ganz amüsant. Aber das nächste Mal werde ich mir die Schuhe doch von einem Profi putzen lassen.


Anregung für Kommentarschreiber: "Meine schönste/verrückteste/... Schuhputzgeschichte". Oder: "Warum ich nie in der Lage sein werde, eine Schuhputzgeschichte zu erzählen." Oder: "Warum ich mir die Schuhe nur von meiner Frau putzen lasse." - (Nur um mich vor einer Kommentarflut zu schützen: 1. Ich weiss schon, dass Gedmin ein Amerikaner ist. 2. Ich halte "neoliberal" für ein blosses Schimpfwort. 3. Auch mir ist schon zu Ohren gekommen, dass es gewisse Kreise geben soll, für die "Kapitalismus pur" nicht die pure Freude ist.

Dienstag, November 01, 2005

Rubrik: Lebensweisheit

In Würde sterben


In Würde alt werden. In Würde sterben. Philosophieren als Sterbenlernen. Ok. - And what about this?

[Szene aus "Philip Roth: The Dying Animal"]

Auf dem Sterbebett verabschiedet sich der halbseitig gelähmte George von Frau und Kindern sowie seinem besten Freund, David Kepesh, dem Ich-Erzähler. Kate, seine Frau, ist als letzte dran. Sie begibt sich ans Bett.

George reached up for her now, and with his good arm pulled her toward him, and kissed her as forcefully as he'd kissed Betty and me. Kate kissed him back. Then they kissed again, a long kiss this time, a quite passionate kiss. Kate even closed her eyes. She's an exceedingly unsentimental, down-to-earth person, and I'd never before seen her do anything so girlish.

Dann versucht George, den Knopf ihres rechten Blusenärmels zu lösen. "George", Kate whispered softly. She sounded amused. "Georgie, Georgie ..." "Help him, Ma. He wants to open the button." Das war Betty. Linker Ärmel. And all this time he kept going hungrily for her lips. Kate caressed his ruined face, ..., kissed his lips each time he offered them. Schliesslich beginnt er an den Knöpfen an der Vorderseite ihrer Bluse herumzufummeln [fumble].

His plan was clear: he was trying to undress her. To undress this woman whom ... he had not touched in bed in years. ... "Let him, Ma." Wieder Betty. Küsse. Dann der BH. But, abruptly, that was the end of it. The force went out of him just like that, and he never reached her pendulous breasts. Zwölf Sunden später wird er tot sein.

Kate begleitet Kepesh zu seinem Auto. I said, "I was glad I was here to see all this." "Yes, that was something, wasn't it?" Kate said. And then with her weary smile she added, "I wonder who it is he thought I was."