T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Samstag, November 05, 2005

Rubrik: Hegel

Du willst die "Phänomenologie des Geistes" lesen und fragst dich vielleicht, womit du beginnen willst, mit der 'Vorrede' oder mit der 'Einleitung'. Hier meine Antwort: Es spielt keine Rolle. Hauptsache ist, dass du zuerst die 'Phänomenologie' liest. Bleibt nur noch anzumerken, dass du vorher die 'Vorrede' verstanden haben solltest. Dafür aber ist die Lektüre der 'Phänomenologie' natürlich abdingbare Voraussetzung.

Hegel lesen


Ich habe mir wieder mal die Vorrede vorgenommen. Sie gilt einigen als Einführung ins Hegelsche System überhaupt. Da stellt sich natürlich sofort die Frage, womit man beginnen sollte. Meine Antwort: Man nehme den 4. Abschnitt. - In der bewährten Manier des alten Meisters soll dieses Rezept nicht vor-läufig begründet werden. Vielmehr soll dessen Richtigkeit sich aus seiner Anwendung, oder dem Resultate derselben, ergeben.

1. Satz:

Der Anfang der Bildung und des Herausarbeitens aus der Unmittelbarkei des substantiellen Lebens wird immer damit gemacht werden müssen, Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte zu erwerben, sich nur erst zu dem Gedanken der Sache überhaupt herauf zu arbeiten, nicht weniger sie mit Gründen zu unterstützen oder zu widerlegen, die concrete und reiche Fülle nach Bestimmtheiten aufzufassen, und ordentlichen Bescheid und ernsthaftes Urteil über sie zu erteilen wissen.

Wir haben ein Stück Musik gehört. Nun wollen wir etwas Substantielles dazu sagen. Wir treffen einige Vorbereitungen: Wir eignen uns Prinzipien an (einen Abriss der Harmonielehre und des Kontrapunkts etwa), vermeiden Einseitigkeiten, indem wir weitere Gesichtspunkte (Fragen der Agogik oder der historischen Aufführungspraxis etwa) hinzuziehen, nehmen kritisch (unterstützend und widerlegend) Stellung zu Thesen über die funktionale Bestimmung einzelner Akkorde etwa sowie über deren Funktion im Rahmen des Ganzen. Natürlich werden wir ab und zu konkreter und greifen aus der reichen Fülle Passagen heraus, die wir schwerpunktmässig nach den verschiedenen Gesichtspunkten analysieren (nach Bestimmtheiten auffassen). Natürlich gehören auch Kenntnisse über des Komponisten Leben und Werk sowie den historischen Hintergrund und dergleichen dazu. So wissen wir denn ordentlich Bescheid, und wir sollten es schaffen, dass unser vorläufiges Urteil ernsthaft in Betracht gezogen wird. - Na ja! Mit irgendwas muss man ja beginnen. Jeder hat mal irgendwo angefangen!

2. Satz, Teil 1:

Dieser Anfang der Bildung wird aber zunächst dem Ernste des erfüllten Lebens Platz machen, der in die Erfahrung der Sache selbst hineinführt, ...

Im ersten Schritt hat das naive Bewusstsein eben erst die Stufe von Georg Kreislers Musikkritiker erklommen, dessen mangelnde Musikalität den Konzertbesuch für ihn zur Plage werden lässt, oder es erreicht eben das Niveau eines ordentlichen und ernsthaften Rezensenten, den noch nicht Lektüre in die Erfahrung der Sache selbst hineingeführt hat. Diese Charakterisierung des ersten Schritt dürfte uns einen deutlichen Hinweis darauf geben, was uns im zweiten erwartet.

2. Satz, Teil 2:

..., und wenn auch diss noch hinzukommt, dass der Ernst des Begriffs in ihre Tiefe steigt, so wird eine solche Kenntniss und Beurtheilung in der Conversation ihre schickliche Stelle behalten.

Dazu zuerst eine philosophiehistorische Bemerkung:

Hier erkennen wir den Ansatzpunkt der Erkenntnislehre des späten Philotustan mit ihrem ständigen Widerspiel zwischen einer Haltung, die sich der Sache buchstäblich ausliefert, und einer solchen, die gezielt - mit den im ersten Schritt erworbenen und nach anfänglicher Erfahrung mit der Sache stetig verfeinerten Mitteln - auf ihren Gegenstand zugreift. (Näheres dazu im Artikel "Zugriff und Gelassenheit. Ein Navy Seal hört Anton Webern".) - "Der Ernst des Begriffs steigt in ihre [der Sache] Tiefe. Wie geht das?" - Ich fragte Philotustan danach. Seine Antwort: "In tiefer Nacht an seinem Flügel sitzend, vergräbt Glenn Gould sich wieder und wieder in Wagners 'Vorspiel und Liebestod'". Anschliessend erklärt er, er sei weder Wagner-Spezialist (1. Stufe) noch Wagnerianer (2. Stufe)." Wenn ich Philotustan richtig verstehe, meint er damit, dass Glenn Gould eine Stufe erreicht hat, in der die beiden ersten Stufen als bestimmt negierte zugleich aufgehoben im Sinne von aufbewahrt sind.

Zweite Bemerkung:

Hegel ist ein freundlicher Philosoph. Haben wir uns mal ernsthaft auf eine Sache eingelassen, dürfen wir unsere Bildung der 1. Stufe im geeigneten Rahmen ohne Schamgefühl zeigen. Unsere Ausführungen zur Stimmführung im Kontrapunkt Palestrinas etwa würden bei ihm als schicklichen Beitrag zur Konversation glatt durchgehen. Wie wir schon wissen, mag er Demut und Bescheidenheit. Bloss den Hochmut kann er nicht ausstehen.