Ein paar Wochen Josquin-Kontrapunkt studieren, ohne zwischendurch mal eine CD einzulegen, so was bringe ich fertig. Eine verdeckte Quintenparalle wird nur dann gesetzt, wenn die Quinte von einer Stimme - meistens ist es die Oberstimme [Beschränkung auf den zweistimmigen Satz] - im Sekundgang erreicht wird. Aufregend? Es geht. Schon aufregender, aber natürlich immer noch trocken (und sauschwer!) ist es, in einem zweistimmigen Satz die Bassstimme zu singen und die andere Stimme der Handharmonika anzuvertrauen. Tja, und so sammelt man seine konkreten, beinharten Erfahrungen. Jedes satztechnische Detail gerät auf diese Weise nach und nach in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit, und man gewinnt ein verdammt gutes Gespür für die rhythmischen und melodischen Eigenheiten der Sätze. Das ist schon sehr zufriedenstellend, auch für die Harmonika, die, wenn ich meine Fingerchen nicht eisern kontrolliere, schon mal in eine selige Folge von Terz- und Sextparallelen verfällt, bevor sie die Alm wieder verlässt und in die einsame Klause zu asketischer Übung zurückkehrt.
Was mich einfach nicht befriedigen will, sind die Schlussklauseln mit ihren Kreuznoten (ad hoc; gemeint sind die Töne Cis, Fis und Gis sowie - bei einem B als Vorzeichen - das h), deren Auftreten sehr streng geregelt ist. Dauer: höchstens eine halbe Note; der Zielton muss ihnen unmittelbar vorausgehen und unmittelbar folgen. Ein strenges Regime, gewiss, und für mein Gefühl doch zu luxurierend, zu wenig trocken, irgendwie, oder zu süss, was weiss ich? "Ja, wenn wir Palestrina treiben würden, würden wir ihr Fehlen schwer vermissen", prahle ich, erst vor mich hin und dann in den Blog. De la Motte belehrt mich: "Was heisst hier luxurierend? Bei Palestrina sind die Dinger emanzipiert, da werden sie dem beschränkten Tonmaterial von um 1500 als gleichwertige Töne hinzugefügt, indem nach und nach alle Beschränkungen für ihre Verwendung wegfallen. Aber unter dem Regime von Josquin & Co. haben sie eine sehr beschränkte Aufgabe ..." Ich bin nicht überzeugt. Die Dinger hören nicht auf, mich zu irritieren.
Die kleinen Freuden
Nun, es kommt die Zeit, wo ich zur CD mit der 'Missa Pange lingua' greife. Vorher wird natürlich die Bassstimme einstudiert, was noch ein paar Tage in Anspruch nimmt, aber dann geht's los: Ich trete zusammen mit den Tallis Scholars auf! Kyrie eleison! Herr, erbarme dich! Und ER erbarmt sich: In seiner grossen Güte und weisen Voraussicht hat er dafür georgt, dass meine Stimmkollegen sehr gut vorbereitet sind. Aber die Sache läuft nicht schlecht für mich. Ich realisiere, dass der Sopran das erste Kyrie ohne das notierte Fis beschliesst. Ich irritiert? Mitnichten! Ich steuere manche falsche Note zum erhebenden Anlass bei, aber eine Kreuznote ist bestimmt nicht darunter. Die Tallis Scholars und ich liegen auf einer Linie. Hier sind die Kenner unter sich.
Niemand hat mit mir geschimpft, auch nicht wegen meines Geschluchzes in der einzigen homophonen Passage des Werks, dem 'Et incarnatus est'. Die Krippe im Stall zu Bethlehem ist ganz entschieden das Zentrum (jeder) Messe. Das mag theologisch strittig sein, aber es ist ohrenfällig. Und das führt mich zu einem Blog, der vielleicht mal geschrieben wird:
[Ausgangspunkt I: Das Credo der 'Missa Pange lingua': Das Ohrenfällige fällt nicht mit dem theologisch Bedeutsamsten zusammen. - Ausgangspunkt II: Der Versuch von Papst Johannes XXII (14. Jh.), die Mehrstimmigkeit in der Kirche zu verbieten. - These: Die mehrstimmige Musik versammelt den Geist nicht auf das spirituell Wesentliche; sie zerstreut vielmehr, indem sie die Aufmerksamkeit auf den mit grosser Kunstfertigkeit hergestellten Wohlklang lenkt. Die Mehrstimmigkeit ersetzt den sakralen Charakter der Gregorianik; der Sinnesrausch tritt an die Stelle der Kontemplation. Die Bussgesänge als Klangorgien (Man denke an Allegris 'Miserere' zur Karfreitagsliturgie). - Eine mögliche Wendung des Ganzen: Die Situation hat sich schwerstens verbessert: Palestrina & Co. sind verschwunden, verschwunden auch die sakralen Töne des gregorianischen Gesangs, der halt auch etwas Einlullendes hat. Gefragt ist jetzt die auch stimmlich aktive Mitwirkung der versammelten Gemeinde der Gläubigen. Tja, und die ist dann weniger zum Schluchzen, aber zum Heulen ist sie alleweil.]
[Mir gefällt, wie Visconti eine Passage aus dem 'Doktor Faustus' in seinen 'Tod in Venedig' eingeschleust hat. Es ist die Szene, wo ein Kollege dem Komponisten[!] Aschenbach die Zweideutigkeit der Musik am Klavier ohrenfällig macht. So gestreng du dein Leben auch gestaltest, du wirst zugrundegehen, wenn du dich dieser Zweideutigkeit überlässt. - Der Bub, der in den Sommerferien im Bergdorf die Ziegen in die Hänge getrieben hat, kann davon sein eigenes Liedchen pfeifen: Für ihn sind die Klänge des 'Agnus Dei' à la de Vittoria für den Rest seines Erdenlebens untrennbar mit den wohlbestrumpften Beinen der jüngeren und älteren Frommen verknüpft, die da hübsch und versonnen zur Kommunion schreiten.]