T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Freitag, Mai 19, 2006

Philotustan in Istanbul


Eine Art Reisebericht findest du hier.

Eine kleine Übung für alle, die finden, sie seien viel zu bemüht oder allzu nett: Du schlenderst durch den Grossen Bazar, und zwar so, dass du dir am Ende auf die Schulter klopfen und stolz verkünden kannst, dass du keinen einzigen Verkäufer auch nur eines Blickes gewürdigt hast. - Mach dir keine Vorwürfe, wenn du das Ziel in den ersten 20 Versuchen verfehlst. Gib dich damit zufrieden, dass du keinen Teppich nach Hause schleppen musst und das goldene Armband, wenn es auch komplett wertlos ist, doch einigermassen hübsch ausschaut. Du hast keine Schulden gemacht, und das schafft nicht jeder auf Anhieb.

Als ich noch ein netter Mensch war, passierte mir etwa Folgendes: "Where do you come from?" - Ich gebe ein bisschen an: "İsviçreliyim." - Die Umstehenden können es kaum fassen, dass ein Schweizer dermassen perfekt Türkisch spricht, und wollen natürlich wissen, wie das kommt. ["Netter Versuch!" Und weitergehen!] Da kann man dann nicht so sein, und schliesslich stellt man fest, dass die kleine hübsche Schale, die man von 35 Euro auf Fr. 7.- heruntergemarktet hat, ihren Preis nicht wert ist. - Das war natürlich ein Erfolgserlebnis erster Güte, gemessen an vorhergehenden Erfahrungen. Aber so richtig stolz konnte ich darauf nicht sein, vor allem wenn ich bedachte, was ich dabei verpasst hatte: In Ruhe durch die Gassen schlendern und geniessen, sich dies und jenes anschauen, sich ein Bild von der gesamten Anlage machen, einfach das machen, was man im Grunde gern machen würde.

Aber es muss doch möglich sein, einen Verkäufer anzuschauen und ihm unter Wahrung der primitivsten Anstandsregeln klarzumachen, dass man nicht gesonnen ist! - Es ist nicht möglich! (Es sei denn, du weisst haargenau, was du willst, und lässt dich von deinem Vorhaben nicht abbringen.) - Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten: 1. Du verhältst dich im Sinne der obigen Übung. 2. Du wirst (a) angesprochen und (b) verhältst dich höflich ablehnend. Das führt dann automatisch zu Szenario (a), was bei deiner netten Art natürlich zu (b) führt, was bei der auf seine Art auch netten Art deines Gegenübers zu (a) führt, was dann schliesslich zu einer deiner netten Art gar nicht entsprechenden Reaktion führt, womit du dich dann nach ein paar Durchgängen mit dem unangenehmen Gefühl, völlig unangemessen reagiert zu haben, herumplagen musst. -
Du kannst dir ein also ein paar Durchgänge ersparen und dabei etwas Schönes erleben im Gefühl, genau das Richtige zu tun.

Heute, wo ich ein glücklicher Flegel bin, bin ich imstande, mich über die Anlage des Grossen Bazars zu verbreiten. Nach erfolgreicher Absolvierung der Übung habe ich am folgenden Tag einen Samowar erstanden, der mir behagt und seinen Preis wert ist. Ich habe mir viel Zeit gelassen und lange nach ihm gesucht.

Tja, ich mag sie, diese Teppichverkäufer und Schuhputzer, und fühle mich in Istanbul pudelwohl. Ich verhalte mich dort ganz schön angepasst und geniesse so das Gefühl, auf der Erde unter Lebendigen mich zu bewegen. Ich begebe mich auf die asiatische Seite oder auch ganz schlicht in ein Gassengewirr neben einer Touristenader, und kein Mensch nimmt mich wahr. Das Interesse an meiner Anwesenheit ist null. Nada. Ich biege in eine nächste Gasse ein, und ich bin der Mittelpunkt der Welt bzw. ein potentieller Käufer. Es ist so sinnlos klar und einfach. Jedes Ding ist an seinem Platz und hat seine Richtigkeit. Das Leben ist hart und schön. Es gibt Reiche und Arme, Kluge und Dumme, Gebildete und Ungebildete, grad wie im richtigen Leben.

Ein letzter kleiner Schlenker für Lebensfrohe: Die türkische Presselandschaft sieht etwa so aus: Es gibt die 'Cumhuriyet' ('Die Republik'; Kemal Paşa selber hat ihr den Namen gegeben; Auflage: 50'000; die türkische NZZ; wurde in der Woche meines Aufenthalts in Istanbul dreimal das Ziel von kleineren Bombenattentaten), und es gibt den Rest (mag sein, dass ein Teil davon das Niveau der 'Bildzeitung' erreicht). Du bewegst dich durch das Getümmel, ein Exemplar der 'Cumhuriyet' gut sichtbar gegen eine Brusthälfte gepresst: Der Mann weiss, wo man das Ding bekommt! Du trägst zur Abwechslung mal Schühchen, die gar schrecklich unter dem Strassenstaub leiden und zwischendurch mal von einer Fachkraft gereinigt werden müssen. Du bist imstande, ein paar passende Brocken Türkisch fallenzulassen, im übrigen aber total zugeknüpft und nicht gesonnen; dabei ist offensichtlich, dass du punkto Türkisch auch einem Einheimischen noch manches klarmachen könntest: Der Mann ist imstande, die 'Cumhuriyet' zu lesen! (Wenn du den Cicero mit seinen kurzen Sätzen leid bist, wartet hier eine neue Herausforderung auf dich! - [Mehr als einen Satz auf einmal schaffe ich nie; ich bin dann völlig erschöpft.]) Nun beehrst du eine einfache Gaststätte mit deinem Besuch. Natürlich hat man dich, wie allgemein üblich, von allen Seiten bedrängt; du aber bist mit gezielten Schritten auf diese bestimmte anatolische Bude zugeschritten, um dort mit klarer Stimme mittels eines weiteren türkischen Brockens deinen Wunsch kundzutun. Du lässt ein dir angemessen scheinendes (optionales) Trinkgeld fallen, freilich ohne den sich in Dankesbekundungen ergehenden Kellner eines weiteren Blickes zu würdigen, klemmst dein Markenzeichen unter den Arm und schreitest von dannen. In der Strassenbahn verziehst du angewidert dein Gesicht, und man macht dir einen Platz frei, den du selbstverständlich mit einem hingebrummelten 'Sağ olun' [Höflichkeitsform immerhin - reine Gewohnheitssache] sofort beziehst: Die Leute tun ja bloss, was sich gehört!

Tja, am nächsten Tag darfst du dich dann wieder normal verhalten. Oder sagen wir 'normaler': Etwas abgefärbt haben wird die Übung schon.

Stellt sich eine letzte Frage: Gesetzt, das beschriebene Verhalten fällt dir etwas schwer, handelt es sich dann bei ihm nicht vielleicht um eine Bussübung? Busse für den alltäglichen moralischen Schlendrian, der fahrlässig so tut, als ob es keine Differenzen gäbe? Als ob es kein richtiges Leben gäbe?


[Motto: Es gibt kein richtiges Leben ausser im Falschen.]