T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

Mein Foto
Name:

Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Samstag, April 21, 2007

[Aus dem Schaffen des Tonsetzers Ilhan Selçuk]

[Eine weitere Kostprobe aus meiner heissgeliebten 'Cumhuriyet'. - Es mag von Nutzen sein, wenn man sich bei der Lektüre etwa folgendes Bild vor Augen hält: Da ist eine von einem gemässigten Islamisten geführte Regierung, die zwei wichtige Grundpfeiler der Türkischen Republik, den Laizismus und die Unteilbarkeit, zu untergraben versucht. Die Wahl des Staatspräsidenten steht bevor, und viele befürchten, dass der Regierungschef für das Amt kandidiert und, da der Präsident vom Parlament gewählt und die Partei des Regierungschefs, die AKP, dort eine Zweidrittelsmehrheit besitzt, auch tatsächlich gewählt wird. Noch hat sich der Regierungschef nicht entschieden, ob er überhaupt kandidieren wird. - In der Gesellschaft scheint sich nichts zu rühren. Doch da strömen auf einmal Hunderttausende von Menschen aus allen Landesteilen nach Ankara, um dort am 14. April auf dem Tandoğan-Platz an einer Demonstration gegen die Regierung teilzunehmen. (Die Istanbul-Post sprach von einer der grössten Demonstrationen in der Geschichte der Türkei.)]

Der Unterschied zwischen Strasse und Platz


Manch einer kann zeitweilig schon mal den Faden verlieren.
Das ist nur natürlich.
"Es irrt der Mensch,
solang' er strebt."
Aber kann der Mensch Strasse und Platz durcheinanderbringen?
Wenn er in einen Zustand gerät, wo er Strasse und Platz durcheinanderbringt, bedeutet das, dass er komplett den Kopf verloren hat.

Die Srasse ist die Strasse, wie wir sie alle kennen.
Auf die Strasse zu fallen ist übel.
In unserer Sprache gibt es eine Redensart:
"Wir haben dieses Land nicht auf der Strasse gefunden!"
Wo haben wir es gefunden?
Im Nationalen Befreiungskrieg!
Diejenigen, die dieses Vaterland teilen und zerstückeln wollen, sollten ihr Augenmerk auf diesen Krieg richten.
Gegebenenfalls müsste halt ein zweiter Nationaler Befreiungskrieg ins Auge gefasst werden ...

Der Platz ist etwas anderes als die Strasse.
Es gibt den Kriegsschauplatz.
Es gibt den Platz, wo die Ringkämpfe durchgeführt werden.
Es gibt den Platz, wo die Truppen aufmarschieren ...
Eng ist die Strasse;
Breit der Platz;
Und weitläufig.
Nun, wo wird denn eine Demonstration durchgeführt?
Etwa auf der Strasse?
Nein, auf dem Platz!

Wie um zu bekunden, dass sie komplett den Kopf verloren haben, haben manche in den letzten Tagen es fertiggebracht, Srasse und Platz durcheinanderzubringen.
Was sagten sie doch noch in Anbetracht der Demonstration, die am 14. April auf dem Tandoğan-Platz in Ankara durchgeführt werden sollte:
"Die Strasse ist unsere Sache nicht!"
Zusammen mit der Führungsclique der AKP sind die Lakaien der Regierungsmacht mit allem, was es an Speichelleckern, penetrant unverschämten Quasselstrippen und verwirrten Rittern der politischen Konjunktur gibt, gegen die Demonstration vom 14. April angetreten.
Nun aber, nachdem sie sich die Demonstration angeschaut haben, sollten sie den Unterschied zwischen Strasse und Platz geschnallt haben.

Immerhin reichten für die Aktion vom 14. April weder Plätze noch Strassen; Ankara war von Menschenmassen überflutet.
Jedesmal, wenn ich mir die unermesslichen Ausmasse der Aktion vergegenwärtigte, sagte ich mir:
"Die AKP weiss, was hier abläuft."
Warum?
Weil vor der Demonstration vom Ministerpräsidenten bis zum Parlamentspräsidenten, von den Ministern bis zu den speichelleckenden Medien eine grosse Aufregung auszumachen war, eine Panik, ein 'Hört bloss auf damit!'
Sie hatten das Ereignis vorausgesehen.

Nun, was ist die Bedeutung der Demonstration vom 14. April?
Zwei Wörter:
Das Volk hat sich gerührt!
Die zerstückelten und verstreuten inneren Kräfte der Gesellschaft, von der schon angenommen wurde, dass die Totenerde über sie verstreut ist, haben sich zu einer Aktion versammelt.

Hier die zwei für die Türkei geltenden roten Linien: der Laizismus und die Unteilbarkeit.
Um den Regierungssessel behalten zu können, arbeitet die AKP-Regierung, diese Filiale der amerikanischen Regierung, daran, auch diese zwei Linien zu überschreiten.
Die Gefahr ist hier!
Mitten unter uns!
In der Regierung!
Nun, wo ist die Kraft, die dieser Entwicklung Einhalt gebietet?
Die Demonstration vom 14. April war ein Ausdruck dieser Kraft.
Wer denkt, diese Kraft werde sich nach dieser Demonstration wieder zerstreuen und zu existieren aufhören, hat sich geschnitten.

Diese Kraft ist auf den Platz gezogen!
Dieser Platz ist der Platz des Volkes.
Der Platz, wo die Ringkämpfe durchgeführt werden.
Der Platz der Demokratie.
Er könnte auch der Kriegsschauplatz sein ...
Oder der Platz des Friedens.
All die, die glauben, sie könnten die Türkei von innen heraus aushöhlen, sie zerstückeln, sie für reaktionäre Ziele opfern, sollten ihre Käppchen abnehmen und nachdenken!

(Ilhan Selçuk - Cumhuriyet, 15/04/07)


[Was ist jetzt schon der Unterschied zwischen Strasse und Platz, zwei Dingen, die kein Mensch verwechseln kann? Wer wird auf diesen Unterschied aufmerksam gemacht? Worauf wird aufmerksam gemacht, wenn auf etwas aufmerksam gemacht wird, was doch keinem Menschen entgehen kann? Was hat der zu verlieren, dem entgehen sollte, worauf hier aufmerksam gemacht wird? - Freunde, hört ihr die Töne? "Oh Freunde, nicht diese Töne!", möchte man anstimmen. Wenn sie vom Mitarbeiter der stinkfeinen 'Cumhuriyet' bloss nicht so verdammt gut gesetzt wären!]

Dienstag, April 10, 2007

In der ersten Dämmerstunde schon verlassen die Fledermäuse die den Besuchern unzugänglichen Winkel der Wartburg und machen sich an die Vertilgung des Insektenheeres, das am westlichsten Zipfel des Thüringerwaldes sich tummelt.

How is it like to be a cat?


Die Anlage der Festung. Das Versteck Martin Luthers. Der Saal, in dem der Sängerstreit stattgefunden haben soll. Die einleitenden Takte der Tannhäuser-Ouvertüre: Meine Gedanken pilgern zur grossen Frage, was mein Kater wohl sieht, wenn er, direkt vor dem Apparat hockend oder vom Sofa aus, ungerührt auf die Scheibe starrt. - Die Wartburg entgleitet in die Totale. An deren Rändern drängt der grosse Wald sich ins Bild. Ein Habicht segelt über ihm, scharf beobachtend, was die Kamera uns nun vor Augen führt: Eichelhäher, die ihr Gefieder putzen, Iltisse, Frettchen, ein Dachs, der einen der zahlreichen Eingänge eines Gewirrs von Hamsterhöhlengängen erkundet und als nicht geheuer befindet, Blütenstengel, Blütenkelche, der Waldboden mit seinem gewirkten Teppich aus Blättern, Zweigen, Pilzen, Moosen, Flechten und einem winzigen, aber höchst dynamischen Element, dessen Anwesenheit dem der Waldesruhe sich ergebenden Betrachter erst auffällt, als sein Kater vom Sofa gleitet, sich vor dem Fernseher aufrichtet und seinen Kopf weit vorstreckt: Und schon ist die Maus wieder am linken Bildrand verschwunden. Der Kater ihr hinterher: Ab nach links und hinter den Fernseher und - von links her natürlich! - wieder vor den Apparat. Doch die Regie geht ihrem nächsten Einfall nach, und erneut ergreift der Gleichmut die eben noch hellwache Katzenseele. Erneut die Pilgermelodie, der träge Gang zum Sofa, ein Hupferl, ein bisschen Geschlecke, die Glieder werden im Halbkreis versammelt. War da was?

Montag, April 09, 2007

Meine Mutter stammt aus dem Saastal. Viel Gesang war dort zu vernehmen in meinen frühen Tagen. Von den Einheimischen sowohl wie von den italienischen Gastarbeitern, die das Stauwerk Mattmark erbauten. So wurde denn neben dem wackeren Geissbuben, dem fidelen Hirtenmädchen und Maria, der mater misericordiae, auch Marina, Marina, Marina heiss begehrt und sehnsüchtig angefleht. Und auch das Radio trug das Seine zur ästhetischen Erziehung der Jungmannschaft bei, indem es selbige zu adäquatem Verhalten gegenüber neuen, ungewohnten Erscheinungen anhielt: "... denn zum Küssen sind sie da."

Ode an die Kindheit


"Seni gidi seni!"
So schreibt mir ein weibliches Mitglied meines Türkischforums:
"Du Schlingel, du!"
gidi: liederlich.
Das meint mein Langenscheidt.
Alle Buben sind liederlich.
Schön, schön, schön war die Zeit.
"die gute alte Zeit":
"gidi günler":
(wörtlich) "die liederlichen Tage".


Meine Mutter stammt aus dem Saastal. Viel Gesang war dort zu vernehmen in meinen frühen Tagen. Es war eine liederliche Zeit.