T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Donnerstag, Mai 17, 2007

Cevdet Atmaca: Meister Toraman


Ohren wie Schöpflöffel, riesige Nase, Pferdegesicht: Der Mann stand mitten auf der Strasse und brüllte laut und wild. Mit Armen und Händen um sich rudernd, holte er meistens zu einem 'Hol dich der Teufel!' aus, und was er sonst an Worten hinterherschickte, war lauter unverständliches Zeug. Aus seinem Schlund spritzte die Spucke, und er liess raus, mit wütender Wucht, alles, was ihm gerade durch den Kopf schoss. Ein Menschenhaufen mit Kind und Kegel hatte sich angesammelt. Noch mehr Schaulustige gesellten sich dazu; einige redeten auf ihn ein - "Lass mal, Hasan, beruhige dich, komm, lass uns gehen!" - und versuchten, sich bei ihm unterzuhaken und ihn vom Schauplatz zu entfernen; er aber geriet vollends ausser sich, und sein Geschreie und Gebrülle wurde noch lauter. Zwischendurch machte er mal Anstalten, Kindern, die sich ihm mit einem "Tüüt, Hasan Tüüt!" näherten und dann gleich rechtsumkehrt und sich aus dem Staub machten, hinterherzulaufen, doch da er mit seinem plumpen Rumpf nirgends hinkam, verfiel er gleich wieder in sein chaotisches Gebrüll. Die Schaulustigen brachen immer wieder in schallendes Gelächter aus, doch es gab auch welche, die ihnen Einhalt zu gebieten versuchten: "Zerstreut euch, Leute, das ist kein Benehmen!"; sie versuchten, Hasan zum Schweigen zu bringen. - Nach einer Weile drängte sich jemand an ihn heran; in seiner hohlen Hand glänzte ein Fünfundzwanziger; den zeigte er Hasan: "Schau her! Schau schon! Schmiergeld! He du! Wenn du schweigst, bekommst du es." Unser Hasan Toraman hatte die Wörter 'Schmiergeld' und 'Fünfundzwanziger' kaum vernommen, als er sofort nachgab und sich beruhigte. Und vielleicht lief sein ganzes leidenschaftliches Gebaren genau darauf hinaus: Ein Schmiergeld von einem Fünfundzwanziger als Gegenleistung für sein Verstummen.

So war Hasans normales Verhalten. Einerseits brüllte und tobte er, die Augen auf das Geld gerichtet, unablässig fort, andererseits öffnete er verschämt seine Hand, streckte sie seitlich aus und wartete darauf, dass ihm das Geld gegeben wurde. Und kaum hatte er das Geld an sich genommen, verschwand er, um dem Stimmengewirr aus "Pfui! Pfui! Er hat das Schmiergeld genommen! Schande! Schande!" schleunigst zu entrinnen, unverzüglich im nächstbesten Laden. Auswärtige hätten ihn für einen echten Angestellten der Stadtverwaltung halten können. Er war auch entsprechend angezogen. Eins achtzig gross und stets mit einer falschen offiziellen Mütze auf dem Kopf, hätte er aus der Ferne auch als solcher ausgemacht werden können. Aber weder jemand von der Stadtverwaltung noch ein Polizist, überhaupt niemand hätte ihn jemals angehalten und zur Rede gestellt. Im Gegenteil: Die innig geliebte Mütze und seine Kleider hatten städtische Beamte ihm zur Verfügung gestellt. Er zählte sich selber zu den prominentesten Leuten der Stadtverwaltung. Er trug jederzeit ein Notizbuch im Ärmel, und in der Tasche hielt er Stift und Trillerpfeife parat. Wenn ihm danach zumute war, blies er auf einmal die Trillerpfeife und griff, um nach Gütdünken einem einen Strafzettel zu verpassen, zu Block und Stift. Die Betroffenen setzten sich dann zur Wehr: "Tu's nicht, Hasan, lass das mit dem Strafzettel, wir können uns doch einigen..." Hasan aber insistierte und begann, von oben herab auf sein Opfer einzureden und es zu beschimpfen. Und dann geschah wieder mal, was immer geschah: Sobald Hasan Toraman des in der offenen Handfläche glänzenden Fünundzwanzigers habhaft geworden war, stellte er sein Gebrüll unverzüglich ein und suchte sich zu verdrücken.
Nicht selten gönnte er sich das Vergnügen, auf der Hauptstrasse eine Verkehrskontrolle durchzuführen. Wenn er in seine Trillerpfeife blies, gab es keinen Wagen, der nicht unverzüglich anhielt. Die Chauffeure und Wagenbesitzer kannten ihn alle. Sie hielten an, flehten und flennten darum, dass ihnen die Strafe erlassen würde, und rückten schliesslich, nachdem sie Hasan noch etwas brüllen gelassen hatten, einen Fünfundzwanziger Schmiergeld raus und fuhren davon.

Das hier vergesse ich wohl nie. Es war ein heisser Sommertag. In den Mittagsstunden, wo die allermeisten bloss faul herumsitzen, ging Hasan auf der Strasse wieder mal seiner Beschäftigug nach. Genau in diesem Moment tauchte ein fremdes Fahrzeug auf. Hasan postierte sich mitten auf der Strasse und blies mit aller Kraft in seine Trillerpfeife. Der Wagen kam urplötzlich zum Stehen. Mit Block und Stift bewaffnet, setzte der Unsrige mit seinem lauten Gebrüll ein. Die beiden Touristen, die aus dem Wagen stiegen - sie trugen kurze Hosen, und ihr Haar und Vollbart gingen nahtlos ineinander über -, standen völlig verdattert da; sie konnten sich nicht zusammenreimen, in was sie da geraten waren, und liessen Hasans Wortschwall einfach über sich ergehen. "Hole euch der Teufel!", donnerte dieser in einem fort und liess nicht davon ab, die beiden Leutchen auszuschimpfen. In Windeseile hatte sich bereits eine noch grössere Menge von Gaffern als üblich zusammengefunden. Als ich begriff, dass die Sache aus dem Ruder geriet, schritt ich ein. Nur mit Mühe und unter ständigem Schweiss schaffte ich es, den beiden Touristen die Situation verständlich zu machen und, nachdem ich Hasan einen Fünfundzwanziger gegeben hatte, sicherzustellen, dass sie ihre Reise fortsetzen konnten.

Nun, wie und wo hatte Hasan diese Arbeit denn gelernt? Wer hatte sie ihm beigebracht? - Eines Tages, in einem Augenblick, wo er gerade zugänglich war, kam ich dazu, ihn selbst danach zu fragen. Ich drängte mich an ihn heran, gab ihm auch eine Zigarette: "Schau, Hasan", begann ich, "man hat dir etwas beigebracht, was nicht richtig ist. Wo hast du denn dieses Einsacken von Schmiergeld gelernt? Gib dieses schändliche Geschäft auf, mein Bester, es ist besser, wenn du dein Geld als Wasserträger verdienst." Hasan schaute mir scheel ins Gesicht. Dann zogen sich seine Mundwinkel bis zu den beiden Schöpflöffeln von Ohren hoch, und er lachte: "Was du nicht sagst! ... Geh schon, mein Sohn, geeeh, sag ich! ... Von diesen Geschäften kapierst du gar nichts. Lass mich zufrieden, geh und such dir andere!" "Aber du kommst eines Tages noch ins Gefängnis", versuchte ich ihm Angst einzujagen. Er zuckte mit den Achseln: "Und wenn schon! Dann werde ich eben begnadigt." Ich sah, dass ich so nicht durchkam, und wechselte das Thema: "Nun, was machst du denn mit dem Geld?" Ich kaufe meiner Mutter ein leichtes Kopftuch." "Und was noch?" Ich kaufe meiner Mutter Schuhe." - Ja, so war das! Man kann mit Fug und Recht sagen: Hasans einzige Sorge war seine Mutter. Für ihn gab's nur seine Mutter. Seine alte, gelähmte, arme Mutter.

Dieser Tage kann ich ihn auf keiner Strasse, auf keinem Platz ausmachen. Jenes vertraute Geschrei hat - vielleicht für eine ganze Weile - ausgesetzt. Ich habe vernommen, dass er vor kurzem einen Unfall gehabt hat. Er soll im grossen Fahrzeugpark unter ein rückwärts fahrendes Auto geraten und sein Bein zerquetscht haben. Er soll fürchterlich geschrien haben. Aber diesmal vor lauter Schmerzen. Die Anwesenden sollen unverzüglich einen Fünfundzwanziger in die Hand genommen und versucht haben, Hasanchen zum Schweigen zu bringen. Sehr schlimm ist seine Verletzung angeblich nicht. Man soll ihm Medikamente und dergleichen verabreicht haben. Wie man hört, liegt er jetzt im zusammengeschusterten Zweizimmerhäuschen seines Mütterchens. Ich sagte ja schon: Sein lautes Gebrüll wird für eine Weile nicht mehr zu hören sein. - Tja, dieser Hasan Toraman! Die gescheiten Leute unseres Städtchens sagen, er sei verrückt.

(Aus dem Türkischen von Alban Clemenz)