T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Sonntag, Januar 21, 2007

auf dem selben Mist gewachsen


Es ist Freitag, kurz nach 22.30. Feierabend. Ich schreite auf den Eingang der grossen Bahnhofhalle zu, von wo mir in breiter Front eine kleine Gruppe von Jugendlichen entgegenströmt. Den Kopf leicht eingezogen, lasse ich es strömen, schieben, knuffen und stossen und frage mich dann wieder einmal, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wenn sich statt meiner zufällig ein Holzpfahl oder etwas Ähnliches dergleichen Vorkommendes auf dem Trampelpfad dieser turnbeschuhten und schiefbemützten kleinen Flegel in den teuren, lächerlichen Hosenscheisseruniformen befunden hätte. - (Wie absurd wäre der Gedanke, dass dieses Gesocks für mich gar nicht existiere. Ich bin ja hier der Nicht-Existente. Trotzdem will ich es nicht versäumen, ihm an dieser Stelle noch meinen Segen hinterherzuschicken: Ich wünsche ihm aus ruhiger, entschlossener Seele alles Üble. Möge der Herr seinen Unwillen an ihm auslassen! Amen.) - Doch ich befinde mich schon auf dem Weg in die Provinz, im Bus, der Ka (der aus Pamuks 'Schnee') von Erzurum nach Kars (Ostanatolien) bringen soll.

Von 'şefkat' ist da die Rede, von Güte, Zärtlichkeit, freundlicher Anteilnahme, Wohlwollen. - Die Nicht-Existenz als älterer Herr zeigt sich von ihrer freundlichsten Seite und macht meine Lage zumindest gut erträglich. Zudem fällt die Belästigung durch Haschischschwaden mittlerweile ja weg, und auch das Aufspringen auf Wörter einer sehr fremden Sprache lässt einen aus ruhiger Entfernung auf dieses potthässliche Deutsch hinabblicken. - Von 'şefkat' ist also die Rede. Gerade eben ist mir sehr danach zumute zuzusehen, wie in einem Roman moralische Empfindungen/Einstellungen verortet werden. -

Dunkelheit, dichtes Schneetreiben, Steilhänge: eine abenteuerliche Busfahrt. Ka's Grundstimmung: 'huzur', Ruhe, Behagen. Der Grund: die Anwesenheit des Mannes, der neben ihm sitzt, eines gutaussehenden Bauern - 'yakışıklı': Das Wort für die Schönheit des Mannes legt eine Distanz zwischen mir und einer Fresse, die beschlossen hat, den älteren Herrn in ihren starren Blick zu nehmen -, der, wie Ka ihrem spärlichen Gespräch entnimmt, in einem Dorf in der Nähe von Kars Viehzucht betreibt. Der Dörfler freut sich darüber, dass ein des Lesens und Schreibens kundiger Mann aus Istanbul (Ka ist Schriftsteller) an den Belangen von Kars Anteil nimmt. Ka gefällt der schlichte Stolz seines Sitznachbarn. (Ich darf hier wieder mal getrost das Wort 'Anerkennung' fallenlassen.)

Was so ein Schlagring nicht alles anstellen könnte ... Was wäre wohl passiert, wenn der wohlbewehrte Fabian, der jüngere Sohn meiner Susanne, und nicht Cyrill, der ältere, vor zwei Tagen zusammen mit seinem Freund von einem jungen Pärchen auf brutale Weise attackiert und beraubt worden wäre ... Nach dem Happy End, wo ich mit Behagen feststelle, dass eine Visage im Zustand kompletter Entstellung ihre verhassten Züge aufgegeben hat, nimmt mich diese Passage voll in Spruch:

[Almanya'da on iki yıl boyunca hissetmediği türden bu huzuru Ka kendinden güçsüz birisini anlayıp ona şefkat duymaktan hoşlandığı zamanlardan hatırlıyordu. Böyle zamanlarda, dünyaya acıma ve sevgi duyduğu adamın gözüyle bakmaya çalışırdı.]
Diese(s) Ruhe/Behagen ist von einer Art, die Ka in Deutschland über den vollen Zeitraum von zwölf Jahren nie verspürt hat. Seine Erinnerung geht zurück zu den Zeiten, wo er Gefallen daran gefunden hat, einen, der schwächer als er selber war, zu verstehen und ihm ein Wohlwollen entgegenzubringen. In diesen Zeiten war er darum bemüht, die Welt mit allem, was da kreucht und fleucht, mit den Augen eines Mannes anzuschauen, der für sie Mitleid und Liebe verspürt.

Mein Neid auf Ka's Sitznachbarschaft ist nun definitiv verflogen. Mein Gehirnskasten hat zwischen der letzten Zugstation und dem Zielort, in diesem leeren Zwischenraum, wo nichts von Bedeutung mehr passiert, noch kurz auf Beschlagwortung umgestellt: Wohlwollen: Wohlwollen aus Stärke; Nietzsche; Ruhe/Zuversicht/Behagen: Ruhe/Zuversicht/Behagen aus Wohlwollen; Moritz Schlick; U-topie und Verortung; so'n Zeugs eben. Doch ich muss jetzt aussteigen.