T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Samstag, Oktober 29, 2005

Rubrik: Kafka lesen

Jan Schlendri ist kein eifriger Leser. Er lässt sich lieber von mir was vorlesen. Und bei der Auswahl, die er ganz allein treffen darf, kennt er keinen Respekt. "Lies mir doch einfach etwas aus dem 'Schloss' vor. Mal sehen. Vielleicht ist das was." Na, da mag er recht haben. Ich ziere mich nicht lange und wähle eine Szene aus dem 18. Kapitel. Kurze Einführung: Was bisher geschah. Dann lege ich mich für zwei Stunden ins Zeug. "Nochmal", unterbricht Jan ab und zu. "Unglaublich!" "Stop! Jetzt habe ich den Faden verloren. Geh zurück zur Stelle, wo ... ." Und schliesslich: "Das reinste Kabarett, was dieser Kafka da veranstaltet. Cool!"

Wer Jans Urteil teilt, kann sich diesen Blog schenken. Wer sich nicht sicher ist, mag weiterlesen. Wer den Roman schon gelesen hat und denkt, Jan habe da was gründlich missverstanden, wird zur Lektüre verknurrt.

Das Schloss.
Nacherzählung einer Szene aus dem 18. Kapitel


Ort des Geschehens: Der sogenannte Herrenhof eines kleinen, ländlich geprägten Dorfes mit einem völlig überdimensionierten Verwaltungsgebäude, dem Schloss. Im Herrenhof empfängt ein Heer von Sekretären der höheren Beamten ihre 'Parteien' zu nächtlichem 'Verhör'.

Die Hauptfigur: Ein gewisser K., der, bevor er seine neue Stelle als Landvermesser im Dorf antreten kann, noch eine kleine amtliche Formalität zu erledigen hat, die sich aber, so darf der Leser, nachdem er K's diesbezügliche intensive Bemühungen über gut 200 Seiten mitverfolgt hat, mit Fug und Recht schliessen, als vertrackter als ursprünglich angenommen erwiesen hat.

An diesem Abend wird K. von einem Herrn Erlanger erwartet. Aus dem Treffen wird aber nichts, da K. sich in der Zimmertür irrt. - Aber nun empfing ihn ein leichter Schrei. - Dann flüstert es durch einen Spalt zwischen Decke und Bettuch: 'Wer ist es?' K. nennt seinen Namen, und der Mann im Bett - ein Herr Bürgel - setzt sich unverzüglich aufrecht und beginnt munter zu plaudern. In offenkundiger Verkennung der Komplexität der Verwaltungsangelegenheiten erbietet er sich, aus dem Handgelenk mit Hilfe eines keinen Notizblocks die Sache da oben in Ordnung zu bringen. K. kann das nicht ernstnehmen. Herr Bürgel erklärt die Besonderheit der augenblicklichen Situation, wie sie sich aus den allgemeinen Umständen für ihn und seinen nächtlichen Besucher ergeben hat:

Gewiss doch. Es scheint unmöglich zu sein, dass eine Partei mit ihrem Anliegen bei der örtlichen Verwaltung durchdringt. Aber es ergeben sich dann doch wieder Gelegenheiten. Günstig ist allein schon der Umstand, dass die Verhöre in der Nacht stattfinden: Die Vorbringungen der Parteien bekommen mehr Gewicht, als ihnen zukommt, es mischen sich in die Beurteilung gar nicht hingehörige Erwägungen der sonstigen Lage der Parteien, ihrer Leiden und Sorgen, ein. Hier besteht eine Lücke in der amtlichen Organisation. Aber das Problem ist erkannt, und es sind etliche Vorsichtsmassregeln getroffen worden.

Und doch gibt es eine Möglichkeit durchzukommen. Freilich, eine sehr seltene oder, besser gesagt, eine fast niemals vorkommende Möglichkeit. Sie besteht darin, dass die Partei mitten in der Nacht unangemeldet kommt. Darum wird der Partei, oft noch ehe sie selber sich die Sache zurechtgelegt hat, eine Vorladung zugeschickt und eine entsprechende Vormerkung in die Akten eingetragen. Denn nun kann die Partei nicht mehr unangemeldet erscheinen. Sie kann höchstens zur Unzeit kommen. Nun, dann wird sie nur auf das Datum und die Stunde der Vorladung aufmerksam gemacht, und kommt sie dann zur rechten Zeit wieder, wird sie in der Regel weggeschickt, das macht keine Schwierigkeit mehr; die Vorladung in der Hand der Partei und die Vormerkung in den Akten, das sind für die Sekretäre zwar nicht immer ausreichende, aber doch starke Abwehrwaffen. Diese Regelung gilt freilich nur für den zuständigen Beamten. Ist der Beamte nicht zuständig, steht es der Partei frei, unangemeldet zu erscheinen. Das nützt ihr dann bloss nichts.

Unangemeldetes Erscheinen bei einem Beamten, der zuständig ist und durch Verschickung einer Vorladung Vorkehrung gegen unangemeldetes Erscheinen getroffen hat: So lautet somit das Erfolgsrezept. - Kein Durchkommen möglich? - Doch! Das so gut wie Unmögliche, es kann sich ereignen!

Das Geheimnis steckt in den Vorschriften über die Zuständigkeit. - Natürlich ist es unvorstellbar, dass ein einziger Beamter den vollständigen Überblick auch nur über den kleinsten Fall besitzt. Es gibt also Teil- und Nebenzuständigkeiten. Und natürlich wird der Hauptzuständige sich hüten, die Verhöre persönlich durchzuführen. Zu viel steht auf dem Spiel. Doch die Möglichkeit besteht, dass eine Partei aus dem Heer der Beamten einen, der eine gewisse Nebenzuständigkeit für ihren Fall besitzt, zufällig, etwa indem sie sich in der Zimmertür irrt, aus seinem Schlaf weckt und ihn, in einem Moment der Schwäche, mit ihrem Ansinnen überrascht. Aber auch das muss noch nicht zwingend zur Katastrophe führen. Freilich, wenn die Partei im Zimmer ist, ist es schon sehr schlimm. Es beengt das Herz. Es drängt den Beamten, der Forderung der Partei nachzugeben. Man folgt ihr und hat nun eigentlich aufgehört, Amtsperson zu sein. ... Unserer Stellung nach sind wir ja gar nicht befugt, Bitten ... zu erfüllen. Wo käme man da hin, wenn eine Amtsperson auf das Ansinnen einer Partei ernsthaft eintreten und den Fall schliesslich abschliessen würde! Herr Bürgel sieht die Folgen klar vor sich: Es würde die Amtsorganisation förmlich zerreissen. Nacktes Entsetzen packt ihn, wenn er sich das nicht Auszudenkende zu vergegenwärtigen sucht: Der fehlbare Beamte würde allein dastehen, wehrlos im Angesicht seines Amtsmissbrauchs.

Herr Bürgel charakterisiert so seine Situation: Es ist die schwere Stunde des Beamten. ... Man muss sich bescheiden und warten. - Das Unwahrscheinlichste ist eingetreten. Schicksal nimm deinen Lauf!

K. schlief, abgeschlossen gegen alles, was geschah.

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Die Ausührungen Herrn Bürgels erstrecken sich über 13 Seiten. Sie stecken voller vertrackter kleiner Details, die ihrerseits alle in ihrer Funktion für das Ganze in korrektem Amtsdeutsch erschöpfend[!] erklärt und gewürdigt werden. Herr Bürgel streift jede amtliche Zurückhaltung ab. K. soll die Einzigartigkeit der Situation, in der er sich gerade befindet, vollends nachvollziehen können. Kein wesentliches Detail - und was ist an einer so ausgeklügelten Organisation schon unwesentlich? - darf übergangen werden. - Die Folgen können fatal sein: Wenn nämlich die Aufmerksamkeit des Lesers für Momente nachlässt, verpasst er schlicht die Pointe(n), und anstatt mit Jan herzhaft mitzulachen, ergeht er sich weiterhin in den allzu bekannten Untiefen der vorgespurten Kafka-Interpretationen, die dem unglücklichen Leser das Lachen geradezu verbieten,