T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Samstag, Dezember 13, 2008

Was unser Nachdenken über Moral auf seinem Schlingerkurs hält, ist vielleicht auch die Tatsache, dass unsere Kompassnadel ständig zwischen den Polen Religion/Tradition/Autorität und Autonomie hin und her pendelt.

Ritzen


Nun soll es ja Nadeln geben, die keine solchen Ausschläge verzeichnen. Der Kompass der Markenfamilie 'family values' etwa ist eindeutig. Aber hier gibt es eine andere Art von Bewegung zu verzeichnen: Seine würdigsten Besitzer scheinen ihn zwischendurch schlicht wegzuwerfen. Sprich: Sie scheinen nicht das mindeste Unrechtsbewusstsein zu haben, wenn sie gegen die von ihnen mit Nachdruck und/oder Gewalt vertretenen Werte verstossen.

Da gibt es den türkischen Patriarchen und Besitzer eines Restaurants, wo im oberen Stockwerk die Männer beim Kartenspiel und verwandten Tätigkeiten unter sich sind. Es ist dir vergönnt, daselbst einen Blick auf die äusserst spärlich bekleidete ukrainische Bedienung zu werfen, und gleich steigt in dir der Verdacht hoch, dass auch die rigideste, lückenloseste Moral feine, zarte Ritzen aufweist, in die das pralle Leben eindringen kann.

[Hier ist ein Zynismus am Werk, wie ihn Sloterdijk in seinem Erstling charakterisiert: Man hält Werte unerbittlich hoch und denkt dabei nicht einmal daran, sich an sie zu halten. Grosse Gesten, verbunden mit einem feinen Grinsen und verächtlichem Schulterzucken. Dies und das gilt unbedingt, und wenn einer sich dran hält, ist er nur bedingt zurechnungsfähig bzw. selber schuld. Es gibt ja schliesslich einen höheren Standpunkt, den oberen Stock beispielsweise.]

Oh nein, ich will nicht moralisieren. Ich mag Ritzen, und vor allem sehe ich in solchen Ritzen zumindest die Keime eines autonomen Nachdenkens über das, wie zu leben gut ist. Sie zeigen, dass auch autoritäre Moralvorstellungen sich in einem jedem Menschenwesen zugänglichen freien Spielraum bewegen, der freilich durch diese autoritären Vorstellungen zugepflastert werden kann.

Ich wiederhole: Keine Anklage gegen die Bigotterie, nein, ich freue mich bloss, allüberall Spielräume der Freiheit zu entdecken.


[Übrigens: Bei Tugendhat geht das aalglatt: Norm/Regel/Wert/Forderung - Satz - Proposition - Möglichkeit (beispielsweise) überlegender Stellungnahme - Möglichkeit, einen mit der Propositionalität der Sprache gegebenen Spielraum (auch) praktisch auszuloten.]