T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Sonntag, April 18, 2010

Schnee


Erst war ich dazu angehalten, die Geschichte zu lesen, dann las ich sie gleich noch einmal, und schliesslich las ich sie meiner verstorbenen ersten Frau an zig langen Abenden vor. Und jetzt teilt mir meine jetzige Frau beiläufig mit, dass sie eben angefangen hat, die Geschichte zu lesen. Und flugs liegt das Buch vor mir auf dem Tisch. Ich beginne darin zu blättern, geflissentlich bemüht, meinen Teil zur Unterhaltung einer kleinen Tischgesellschaft beizutragen. Doch schon beginnt der Zauber des in einer Bergwelt angesiedelten und vom Erzähler, diesem raunenden Beschwörer des Imperfekts, in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorgetragenen Geschehens auf mich zu wirken. Jeder kennt das: Emsige Heinzelmännchen haben begonnen, in den verwinkelten Archiven der Hinterstübchen herumzustöbern, und bedrängeln einen mit zig kleinen Fragen: "Da waren doch diese Träume. Wie ist dieser Hans zu ihnen gekommen?" Und so gerätst du in Schneemassen, und diese Schneemassen geraten in Bewegung:

... der Schneesturm, mit einem Worte, war da, der lange gedroht hatte, wenn man von 'Drohung' sprechen kann in Hinsicht auf blinde und unwissende Elemente, die es nicht darauf abgesehen haben, uns zu vernichten, was vergleichsweise anheimelnd wäre, sondern denen es auf die ungeheuerste Weise gleichgültig ist, wenn das nebenbei mit unterläuft.

Ein erster Windstoss fährt in das dichte Gestöber und trifft Hans Castorp: "Hallo!", denkt dieser, "das ist eine Sorte von Anhauch. Die geht ins Mark." - Mit voller Wucht treffen dich die Sätze. - Und wirklich ist dieser Wind von ganz gehässiger Art. - Die Sätze treiben die Zeit vor sich her. Schon ist die kleine Gästeschar verschwunden ...


"Ich knie nieder, ich bete an." Andreas Isenschmid über den 'Doktor Faustus', in dem ich vor Jahrzehnten ersoffen bin. Ach Gott, in gar manchem Opus bin ich schon ersoffen, oder ein nicht leicht erklärlicher Widerwille hat mich daran gehindert, das Ende so mancher Tragödie mitzuvollziehen. Nun, das ist halt wie bei der Musik: Solange einen Isoldes Tod immer wieder erschüttert oder es sich für einen im Motivgeflecht der Wotantragödie voraus- und zurückhörend noch immer nicht ausgehört hat, darf man im 'Parzival' oder im 'Lohengrin' getrost steckenbleiben.

Im Handumdrehen also wird der Leser [bei Thomas Mann ist es der Erzähler] mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält.
(aus dem 'Vorsatz' zum 'Zauberberg')


["Was genau ist jetzt von Thomas Mann und was von dir?" - (angemessen verschämt:) Mann, mach mich nicht glücklich!]