T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Donnerstag, Februar 02, 2006

Rubrik: Fundamentalethik

Lass den Un-Fug


[Über den genauen Verlauf des Holzwegs bekommt man Unterschiedlichstes zu hören. Einigkeit besteht nur darin, dass er irgendwann mal in den Schwarzwald führt. Für viele beginnt er im Milet des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. Von dort schicke ich meinen LeserInnen auch diese Postkarte. (Vielleicht bin ich das nächste Mal imstande, auch noch ein paar diakritische Zeichen über den Text zu streuen. Die HTML-Shops hier in Kleinasien haben Öffnungszeiten, die schlecht zu meinem Tagesrhythmus passen.)]


εξ ων δε η γενεσις εστι τοις ουσι και την φϑοραν εις ταυτα γινεσϑαι κατα το χρεων⋅ διδοναι γαρ αυτα δικην και τισιν αλληλοις της αδικιας κατα την του χρονου ταξιν.


[Wörtliche Übersetzung: Aus welchen aber die Genesis ist den Seienden, auch der Untergang in diese geschieht gemäss dem Notwenigen; geben nämlich diese Recht und Vergeltung einander der Ungerechtigkeit gemäss der der Zeit Ordnung.]

[Anmerkungen zur Grammatik:
Zu ergänzen ist ein 'Anaximander sagte'. Der Satz steht also im auch den Lateinern bekannten A.c.i. der indirekten Rede. -
In γινεσϑαι erkennen wir die γενεσις wieder. -
In διδοναι erkennen die Lateiner sofort eine vertaute Reduplikation wie in 'dedi' (do dedi datum[03-02-06] dare) wieder.]

Einzelne Wörter:
το χρεων ist das substantivisch gebrauchte Partizip zu χρη (es ist notwendig/nötig): das Notwendige, Nötige, Schickliche, Erforderliche, die Pflicht, Schuldigkeit, Schicksalsbestimmung, Notwendigkeit. -
ταξις < ταττω: (auf)stellen, ordnen. -
δικη: Sitte, Recht, Gerechtigkeit; Gegensatz: αδικια. -
τισις: Vergeltung im Sinn von Belohnung ('Vergelt's Gott!') als auch von Rache.

Eine klassische Übersetzung: Diels (von Diels & Kranz), 1902:
Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Busse für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Ordnung.

Meine eigene Übersetzung ist blank i.S. von ungereimt:
        Woraus die Dinge ihr Entstehen haben,
darin liegt ihr Vergehen, schicksalshaft.
Denn Recht, Vergeltung auch, übt eins am andern,
der Ordnung folgend, die die Zeit gesetzt.

Zur Interpretation:
Die Schwierigkeit jeder Interpretation liegt im Umfang des Anaximanderschen Gesamtwerks: Wäre der zweite Teil des Satzes verschollen, könnte, wem es behagt, in einer hübschen/tristen kleinen Metaphysik baden gehen: Die Abtrennung vom απειρον, dem Unbestimmten, dem Nicht-Individuierten, muss vom Individuierten mit seinem Untergang bezahlt werden; Geboren-Sein heisst Schuldbeladen-Sein. Tja, gar manche Periode liesse sich aus diesem Gedanken drehen; der Triefsinn hätte kein Ende, wäre da nicht der zweite Teil des Satzes mit seinem αλληλοις (einander); und das γαρ (nämlich) macht die Sache ja auch nicht besser: Dem απειρον sind wir was schuldig; aber wieso αλληλοις? - Nun, ich weiss es natürlich auch nicht und tu, weil mir gerade nach einem andern Bad zumute ist, mal so, als wäre der erste Teil des Satzes verschollen.

Hübsch, wie Heidegger mit seiner Wiedergabe des κατα το χρεων durch 'entlang dem Brauch' die metaphysische Dimension des ersten Teils ausblendet bzw. sie in die soziologische Dimension des zweiten Teils hinüberblendet:

... entlang dem Brauch; gehören nämlich lassen sie Fug somit auch Ruch eines dem andern (im Verwinden) des Un-Fugs.

Die Dinge fügen sich gegenseitig so zusammen, dass das von ihnen so gefügte Ganze nicht aus den Fugen gerät. Dieses Geschäft erfordert keine übertriebene Sorgfalt; es gilt allenfalls darauf zu achen, dass man den gröbsten Unfug sein lässt, also nicht etwa einer Erniedrigung eine Schmeichelei hinzufügt. Keine übertriebene Sorgfalt: Die Dinge einfach da lassen, wo sie immer schon hingehören. gehören lassen: Sie sind schon richtig verteilt (διδοναι: Von den mir bekannten Übersetzungen ist diejenige Heideggers die einzige, die dem Perfekt Rechnung trägt); jetzt braucht man sie nur dort zu lassen, wo sie eh schon hingehören. Schlichter: Tun, was sich gehört. Fug somit auch Ruch: Auch wenn es ein bisschen weh tun mag: Zu gehörigem (füglichem, gelassenem) Verhalten gehört auch die Rache. κατα την του χρονου ταξιν:

Kommt Zeit, kommt Ruch.