T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Dienstag, Juli 31, 2007

[Ich gönne mir zu meinem Geburtstag etwas, was einem erfolgreichen Schreiberling wohl anstehen würde: Ich veröffentliche hier einen 1990 geschriebenen Text, in dem ich meinen Irrweg zur Philosophie darstelle.]

Aus Wolken des Irrtums geboren


Durch ein kleines Missverständnis bin ich schon als Zögling einer katholischen Internatsschule auf Ludwig Wittgenstein gestossen. Nicht, dass einer unserer Philosophielehrer ein Wort über ihn verloren hätte. Aber von Sokrates war oft die Rede. Wir haben im Griechischunterricht der 6. Klasse den 'Gorgias' und zu Beginn der 7. (und letzten) Klasse das Höhlengleichnis gelesen. Eine Philosophieprüfung in der 6. Klasse bestand darin, dass wir uns jeder einzeln mit dem Philosophielehrer über einen frei gewählten platonischen Dialog unterhalten mussten/durften. Ich war voll bei der Sache. So habe ich dem Griechischlehrer, einem Priester (fast alle unsere Lehrer waren Priester), in einem persönlichen Gespräch den Vorschlag gemacht, wir könnten doch das olle und etwas fad gewordene höchste Wesen für eine Weile wenigstens vergessen und uns etwas Erhabenerem, Schönerem, Tollerem zuwenden: den ewigen Ideen. Er war über mein Ansinnen nicht sonderlich erbaut und wird wohl einen Kompromiss vorgeschlagen haben. Mir aber war in jener geistig stürmisch bewegten Zeit überhaupt nicht nach Kompromissen zumute: Nachdem ich in der 5. Klasse einem Buch aus der Schulbibliothek entnommen hatte, dass und wie die Existenz eines höchsten Wesens seit Jahrhunderten schon hieb- und stichfest bewiesen werden könne, in der Zwischenzeit aber aus einem anderen Buch derselben Bibliothek hatte erfahren müssen, dass die Debatte darüber immer noch im Gange sei, war ich nicht länger gewillt, mich mit einem so zweifelhaften Wesen zu befassen.

Mit den Ideen verhielt es sich anders. Sie machten einen beständigen Eindruck. Einen unversehrt reinen und erhabenen Eindruck. Die Idee der Tugend aus dem 'Menon' war erhaben über das Gekicher, das ihr zufälliger Lautkörper in unserem pubertierenden Klassenzimmer hervorrief. Sie verharrte unberührt und ungetrübt von der Sünde der letzten Nacht, die mich einen Augenblick lang verwirren mochte. Sokrates quengelige Fragen rückten die Ideen immer weiter weg, und dadurch wurden sie immer undurchdringlicher, härter, realer. Seine Gesprächspartner mussten einer nach dem andern das Handtuch werfen: "Ich weiss im Grunde nicht, wovon ich rede." "Also ist der Gegenstand meines Nichtwissens ein erhabener", lautete meine Fussnote dazu. Was ich dabei vor allem gelernt habe: die Frage nach dem Wesen (des Guten, der Gerechtigkeit usw.) zu akzeptieren.

Die Ideen standen also zweifelsfrei fest. Die Frage nach ihrem Wesen freilich blieb ungelöst, der Frager unerlöst, unerlöst durch eine Antwort, unerlöst von der Frage. Doch Ideen haben es auch an sich, dass man sie ruhig eine Zeitlang auf sich beruhen lassen kann, ohne dass sie gleich Rost ansetzen oder vergilben oder grau werden, wie es minder unsterblichen Dingen zustossen kann. Und ich hatte auch noch andere Sorgen. Beunruhigt durch die Vorstellung, dass ich, zwischen die Hecks zweier schwerer Lastwagen geraten, urplötzlich zu existieren aufhören könnte, und verwirrt durch Fragen wie die, wer genau da zu existieren aufhöre und wem es gegeben sei, solche scheusslichen und gescheiten Fragen zu stellen, drängte es mich nach der endgültigen Klärung der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem, was sich von den Hecks abkratzen lässt, und dem, was eben noch die gescheiten Fragen gestellt hat. (Verwirrliches Gedankenspiel, wie gesagt. Auch es will geübt sein.) So verschlug es mich wieder einmal zu den schon erwähnten Büchern. Ich schmökerte darin, begierig, irgendwo zufällig vielleicht ein kleines Gedankenstückchen aufzuschnappen, das dem Materialismus endgültig den Garaus machen könnte, musste lange schmökern, schnappte dies und das auf: Satzfetzen, lustige Namen wie 'Fichte', exotische Ismen, Zitate, kantige Namen, Zungenbrecher wie 'Transsubstantiation', Anekdoten, bösartige Gestalten wie Verkörperungen des Bösen (mit und ohne Schnauz), wieder ein Name: 'Ludwig Wittgenstein', ein schöner Name, "der Sokrates des 20. Jahrhunderts". Und davon hatte mir nun keiner etwas gesagt! Ich liess den Materialismus fahren und zog den Ideenhimmel wieder in meine Nähe. Da war einer, der Aussicht bot, die hängigen Wesensfragen aufzuklären. Der Sokrates des 20. Jahrhunderts sollte dazu imstande sein.

Ich kaufte mir eines seiner Bücher, besser: Ich erkundigte mich nach Büchern des Autors (Welche Sparte?"), entschied mich schnell ("Lass uns, mein lieber Menon, zusammen untersuchen, inwiefern das Gute ...") für das richtige, liess es bestellen ('Alban Clemenz' und 'Ludwig Wittgenstein' auf demselben Zettel, den die Verkäuferin andächtig ausfüllte), erkundigte mich, ob es schon eingetroffen sei, konnte es schliesslich in Empfang nehmen, legte ein Vermögen hin, verliess den Laden und schwebte, unberührbar geworden, zurück ins Internat.

[...]

Ein lateinischer Text. Eine Übersetzung des Textes: sehr bequem. Eine klare Darstellung der Grundgedanken des Textes. Ein Ausblick auf Kommendes ("Heute haben wir nur über das Substantiv gesprochen. Die übrigen Wortarten behandeln wir später"). Und dann geht jemand fünf rote Apfel kaufen. Etwas befremdlich, den lateinischen Text einfach so liegenzulassen. Und wie sich der Verkäufer aufführt. Mir ist nicht alles restlos klar. Aber: Es hat offenbar geklappt. Und vor allem: Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende. Und die Bedeutung des Wortes 'fünf' wird ja dann nachgeliefert. - Ich beschliesse, mir jeden Tag eine Nummer vorzunehmen. - Spiele mit Bauklötzchen. Das Lehren der Sprache sei ein Abrichten. Irgendwie erregend, so unanständiges Zeug so lapidar auszudrücken. Weitere Klötzchenspiele. Zuerst die einfachen Beispiele. Harte Arbeit am Detail.

Gerade freundlich ist er nicht, dieser Wittgenstein. Und ich weiss halt noch nichts. (Beispielsweise wäre es vielleicht wichtig zu wissen, wer der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung ist.) Aber ich lese mit System (jeden Tag wieder von vorne und jeden Tag eine Nummer dazu) eine Schrift eines bedeutenden Denkers unseres Jahrhunderts und vergegenwärtige mir, dass andere Leute bloss die Heilige Schrift lesen. Das entschädigt doch für manches. Die Wochen vergehen. Die Noten sinken. Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Nicht einleuchtend, aber wenigstens offenkundig daneben. Für die einfachen Bauklötzchenspiele vielleicht gerade richtig. Er kommt doch langsam zur Sache. Die Wochen vergehen. Auch für die Aktivitäten der Studentenverbindung habe ich jetzt keine Zeit mehr übrig. Der Verein kann mal ohne mich.

Und dann die Nummern 65 und 66: Hier stossen wir auf die grosse Frage, die hinter all diesen Betrachtungen steht. - Denn man könnte mir einwenden: "Du machst dir's leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache, ist". Ich hatte es immer gewusst. Ich hatte gemerkt, worauf er hinaus wollte, wenn er denn der Sokrates des 20. Jahrhunderts war. Verwirrend freilich, dass Sokrates hier den Wittgenstein herausfordert, und zwar genau so, wie er die Sophisten immer herausgefordert hat: "Ihr gebt an zu wissen, was das Wesen von X ist. Aber ihr liefert mir nur Beispiele, redet von diesem und jenem. Nie trefft ihr den Kern, das Wesen, der Sache, über die ihr so schwungvoll daherredet." Ich durfte gespannt sein, wie Wittgenstein sich aus der Affäre zieht.

Und ich wurde verrückt, verrückt vor Verblüffung und Freude, von einem Geistesblitz getroffen, auf einen Kahlschlag mit einem Schachzug bewehrt, der eine Entscheidung in mancher sich nun über mehr als zwei Jahrtausende hinziehenden Hängepartie herbeizuführen gestattete. Ich sah den Sokrates allein auf der Agora stehen - Wittgenstein hatte ihn dort stehenlassen - und seine Frage nach dem Wesen des Spiels in der Hand drehen. Die Frage war nun Wind und Wetter ausgesetzt. Ich hatte aufgehört zu warten, dass jemand die Frage löst, und sah - nicht ohne Erregung - zu, wie sie ihr Gewicht und ihren Glanz verlor und ganz plötzlich zu erodieren begann. Und der Erosionsprozess griff um sich: "Ist es nicht so, dass das Dichterwort allein das geheimnisvolle Raunen und Rumoren aus den tiefsten Abgründen der menschlichen Existenz heraufzubeschwören vermag?" - Weihevolle Stille, in die ich nun mit meiner Antwort - sie war kindisch einfach - hineinplatzen konnte: "Es gibt keine tiefsten Abgründe der menschlichen Existenz." Mein Herz pochte, der Lehrer zeigte Geduld: "Aber hat nicht der Künstler ..." Ich liess ihn nicht einmal ausreden: "Es gibt keinen Künstler." Ich wusste, dass ich nun gleich zu stottern anfangen würde, der Lehrer war nun verärgert; aber auch er konnte solche Fragen nicht mehr vor der Erosion bewahren.

[...]

Ein lang anhaltendes Insistieren auf einer Fragestellung: Die Gedanken kleben aneinander. Ein Gedankenblitz: Die Gedankenfetzen spielen verrückt und ordnen sich plötzlich zu einem neuen Muster. Ein Kick war das, ein Schuss: Ich war voll drauf, wollte mehr davon, keine tiefere Einsicht, sondern das Lustgefühl, wenn ein Gewitter durch die Gedankenstube fegt, die Erregung, wenn ein Weltpuzzle umkippt, das Wohlbehagen in der neu eingerichteten Wohnung: eine lange Anstrengung, viele falsche Handgriffe, Pläne, die durcheinandergeraten, zwei Fenster, die sich öffnen, ein unvorsehbarer Sturm zieht durch: Wie vom Himmel gefallen steht die neue Einrichtung da. - Aimez-vous la philosophie? - Ein Philosoph, einer, der Gedanken als gelenkige, körperliche Gestalten wahrnimmt, war geboren.

[...]


[Nachtrag:
Der Geburtstag ist vorbei. Nur noch eine typisch geburtstägliche Frage, die mir die mühselige Abtipperei verkürzt hat: Stelle dir vor, ein wohlmeinender Geist hätte dich vor diesem Gemisch aus Naivität, Schwärmerei und grotesken Fehlinterpretationen bewahrt. - Das Salz des Geistes wäre dir abhanden gekommen. - Salz des Geistes? - Nun, lass die erwähnten Ingredienzien weg, und du hast einen perfekten BWL-Studenten vor dir.]