T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

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Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Mittwoch, Dezember 24, 2008

[Dieser Blog handelt offensichtlich nicht von der Moral. Und ebenso offensichtlich handelt er von einem Ding, das mit dem Moralischem verwandt ist. Ein sauberer formaler Begriff von Moral ist eine hübsche Sache. Doch dann beginnen die 'Unsauberkeiten'. Diese ergeben sich aus Gefühlen, die für die Moral wesentlich sind, sich aber nicht auf sie beschränken lassen. Daher rührt die ständige Unsicherheit, was denn nun genau die Moral ist. Sie ist für das Nachdenken über die Moral wesentlich.]

Purgatorium Philosophi


Zur Erinnerung: Ernst Tugendhat hat sich seit seiner Habilitationsschrift immer wieder mit dem Problem der intellektuellen Redlichkeit herumgeschlagen. Sein jüngster Versuch trägt den Titel 'Retraktationen zur intellektuellen Redlichkeit' (in: 'Anthropologie statt Metaphysik' [AsM]). 'Retraktationen': Das Wort habe ich noch nie gehört. Aber es spricht zu mir: IR und kein Ende. - IR: Es muss weitergehen! - IR: Auf zur erneuten Behandlung eines unbehandelbaren Problems! - Schon wieder: IR. - Ich blicke immer noch nicht durch: IR. Eine Wiederbehandlung.

Tugendhat meint, er sei sich nicht sicher, ob 'IR' der richtige Ausdruck sei für die Sache, die er im Auge habe. Ich, der heute auch mal ein paar Sätzchen zum Thema riskieren will, bin mir nicht sicher, ob ich weiss, welche Sache ich im Auge habe. Die IR ist eine Quälfrage, weil sie in mir zig Sachen gleichzeitig aufwirbelt. So will ich mich als erstes auf eine der vielen, meines Erachtens reichlich disparaten Bestimmungen Tugendhats festlegen, die aus 'Egozentrizität und Mystik': "Von intellektueller Redlichkeit spricht man, wenn eine Person nicht vorgibt, mehr zu wissen, als sie weiss, und wenn sie bemüht ist, ihre Meinungen nicht für begründeter zu halten, als sie sind." (79) Das Problem lasse ich mir auch vorbeten: Worin besteht ihre Motivation? (Die ist offenbar schleierhaft, während eine gegenteilige Haltung relativ leicht verstehbar sein soll.)

Die Festlegungen sind - für mich wie auch sub specie aeternitatis betrachtet - sehr wichtig. Wie bekannt sein dürfte, werden Philosophen im Fegefeuer zu Retraktationen verdonnert, und ich muss/darf vermuten, dass ich um die IR nicht herumkommen werde. (Die Aussicht, zusammen mit Herrn Tugendhat eine Schulbank zu drücken, ist da bloss ein geringer Trost.) Der Titel ist vorgegeben: 'IR. Eine Retraktation.' (Seelenqualen hin oder her: Ich vermute, dass ich noch einen redlichen Untertitel hinzufügen werde: 'Ein erster Versuch'.) Ansonsten ist praktisch nichts vorgegeben, bis auf eine Kleinigkeit: 'Es wird um redliche Behandlung des Themas gebeten.' Die Beurteilung der Arbeit wird dem Prüfling überlassen. Er darf nach eigenem Gutdünken ein Kreuzchen setzen: a) Ich bin nun reif fürs Himmelreich. b) Meine Arbeit befriedigt meine IR-Standards noch nicht. Ich bitte um einen weiteren Versuch. (Ich muss bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass die Ewigkeit erst nach dem Fegefeuer beginnt.)

Tugendhat beurteilt seinen (vorläufig) letzten irdischen Versuch wie folgt: "... ich habe das ungute Gefühl, dass das Motiv zur intellektuelen Redlichkeit ein ganz einfaches ist, das ich, aus mir unerfindlichen Gründen, nicht vor den Blick bekomme". (Vorwort zu AsM) - Das führt mich zu meinem eigenen, belanglos persönlich gehaltenen, dem Fegefeuer nicht vorgreifenden irdischen Versuch:


Gesetzt, ich wäre ein Kaminfeger, würde ich meinen Stolz darin setzen, ein guter Kaminfeger zu sein.


Und weil die Nacht noch jung ist, füge ich noch einen zweiten Versuch an:

Ich mag mir nicht vormachen, ich wüsste etwas, wenn ich bloss ein Kuddelmuddel in meinem Gehirnskasten habe. Das liegt daran, dass ich wissen will, wie es sich mit wesentlichen Dingen verhält. Anderen Leuten vorzumachen, dass ich mehr weiss, als ich tatsächlich weiss, ist (meistens) schlicht witzlos, zumal ich bei meiner Tätigkeit darauf angewiesen bin, mit andern zu reden, ernsthaft zu reden, ohne Fisimatenten. Ich will wissen, was sie denken und wie sie dazu kommen, gerade so zu denken. Ich will, dass sie mich in die Karten blicken lassen, und da wäre es schön bescheuert, den Besserwisser zu spielen und ihnen vorzugaukeln, ich sei im Besitz von guten Gründen, wo ich bloss ein paar unbedarfte Meinungen und/oder intellektuelle Vorlieben am Lager habe. Oh, ich werde mich nicht zurückhalten, wenn ich mit einem guten Argument aufwarten kann. Aber mich für eine eigene schwache Sache stark zu machen, ist ... na ja, eben witzlos, die pure Zeitverschwendung. Ich bin darauf aus, ab und zu zu ein paar Sätzchen zu kommen, zu denen wenigstens ich selber aus Überzeugung stehen kann. - Also: Ich will mir selber nichts vormachen. Grosse Ehrensache. Und ich will andern nichts vormachen, weil ich Gespräche, wo einer dem andern etwas vormachen will, nicht ausstehen kann.


Das war ein geschwätziger Versuch. Vielleicht geht's auch etwas weniger schwatzhaft. Dritter irdischer Versuch:

Ich bin ein Philosoph. Mich interessiert die Wahrheit von wesentlichen Dingen. Hab's nicht so mit dem Schein und der intellektuellen Gaukelei. Denn schliesslich will ich ja ein guter Philosoph sein. Ich will mich nicht schämen müssen. Ich will in erster Linie nicht meine Selbstachtung verlieren. Dass andere mich schon mal für einen Trottel halten, nehme ich zur Not gerne in Kauf. Applaus von der falschen Seite ist bloss lästig. Von den richtigen Leuten anerkannt zu werden, ist dagegen die halbe Seligkeit.

[Mein Kaminfeger, ein stolzer Berufsmann, versteht mich gut. Seine Philosophiekenntnisse halten sich in Grenzen, aber dass jeder seine Sache gut machen will, ist für ihn sonnenklar. Man hat ja seinen Stolz.]


"Oh Philotustan, was für eine Erklärung hast du da geboten! Du hast die Frage nur verschoben. Deine Antwort lautet im Grunde bloss: 'Ich hab's mit der IR, weil ich ein Philosoph bin.' Aber hier müsstest du nun weiterfragen!" - Es reicht! Erstens halte ich es für ungesund, starke Werthaltungen einer Befragung ohne Ende zu unterziehen. Und zweitens nerve ich meinen Kaminfeger auch nicht mit Fragen wie der, warum genau er letztlich gerade mit Kaminen und Öfen und Brandschutzbestimmungen ein Ding habe.


Ich hab ein Ding mit meinem Ding.
Gut will ich sein in meinem Ding.
Will da was taugen.
'Tugend' kommt von 'taugen'.
Die Tugend ist nicht das Problem.
Wer Tugend hat, darf ungehemmt sich ihr ergeben.


[Für Ernst Tugendhat]