[Ehrlichkeit, schonungslose Offenheit gar wird einem vom andern abverlangt, während man selber mit der anständigen Maxime kämpft, den andern nach Möglichkeit zu schonen: Eine befreundete Person hat einem ein eigenes Gedicht vorgelegt. - Das hier ist anders: Man erkennt auf Anhieb ein bewundernswertes handwerkliches Können, wird von der Plastizität des Gesamtbildes, das zu mitwebendem Nachvollzug einlädt, sofort gefangengenommen und darf sich unbefangen einer ehrfurchtslosen Komik überlassen:]
Die Kreuzspinne
An Jesu linker Mittelzehe klebte
sie ihre Spinnenseide fest und strebte,
den Faden nach sich ziehend, seiner Lende
und seinem Arm entlang zum Balkenende,
wo sie den Nagel, den sie dorten fand,
mit der besagten Mittelzeh verband.
Von dieses ersten Fadens Mitte schlug
sie senkrecht einen zweiten, den sie klug
im Dornenkranz verwob. (An Gottes Sohn
hing gleichsam nun ein schiefes Ypsilon.)
Alsdann ihr Werk mit Kunstverstand vollendend,
begann im Uhrenzeigersinn sich wendend
von aussen her sie Kreis um Kreis zu spinnen.
Sie wob und wob und wob,dann war sie drinnen
im Zentrum angelangt – und lag bereit
zum Fang der heiligen Dreifalterkeit.
(Christoph Leuenberger)
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