T(r)iefsinn - Unsinn - Leichtsinn

Hier waltet, streunt, brütet, tanzt ... der Sinn. Hier treibt er sein Allotria. Hier wird ihm der Garaus gemacht. Die Szenerie, in die du geraten bist, bezieht ihr Licht aus einem Bereich, wo die grossen Geheimnisse des Lebens vor sich hinkichern.

Mein Foto
Name:

Lizentiat in Philosophie und Germanistik. - Beruf: Gymnasiallehrer. - Jetzige Tätigkeit: Teilzeitjobs und philosophische Beratung.

Mittwoch, Oktober 19, 2005

Rubriken: Lebensweisheit, Ästhetik

Die Geburt einer Pinter-Interpretation aus dem Geiste der 'Schillerstrasse'


Harold Pinters Figuren haben keine feste Identität. So kann es vorkommen, dass eine Figur zwischen zwei Szenen ihre Identität wechselt.

Jan: "Ja das ist noch gar nichts. In der ... Goethe- ... Kleist- ... Schillerstrasse! Ja, in der Schillerstrasse ist es noch viel krasser. Da sind die in diesem Zimmer, und dann sagt der am Mikro, also der, der nicht im gleichen Zimmer ist, der sagt dann der Blonden, der hübscheren von den beiden, sie solle auf den Tisch steigen und den langen Lulatsch da fragen, wie es ihm das letzte Mal gekommen sei oder so Zeugs. Und das nächste Mal muss sie etwas total anderes machen. Es hat eigentlich keinen grossen Zusammenhang. Aber manchmal ist es schon zum Grölen. Das musst du dir mal reinziehen. Was hat eigentlich Thun gegen Ajax gemacht?"

"Später. Möchte nur noch schnell etwas über den Pinter loswerden. Du hast mich da auf eine Idee gebracht." -
"Ok. Kunst ist schön. Und Thun ist auch schön."

[Auch das liebe ich an meinem Jan. Diese liebevolle Apodiktizität, wo es um Fragen wie etwa das Verhältnis zwischen höherem Kunstgenuss und Massenkultur geht. Seine Statements sind anspruchslos endgültig und nicht zerstörerisch. Sie lassen alles stehen. Wo manch einer ein 'aber' setzt, verwendet er gern das offene 'und'.]

Du badest in einer Szene. Alles läuft flott. Du geniesst den glatten Wortfluss. Auf einmal gerätst du ins Stocken: "Was soll das? Wieso sagt die Figur das? Worin liegt ihre Motivation? Zeigt sich hier etwa ein Bruch in der Persönlichkeit der Figur X? Oder liegt der Bruch tiefer? Ist es die Brüchigkeit gar der Existenz oder der interpersonellen Kommunikation überhaupt oder der gesellschaftlichen Situation insgesamt, die hier in den flüssigen Alltagsdialog einbricht?" - Glatte Oberfläche. Sprünge/Risse/Spalten. Unheimliches bricht ein. Figuren brechen auf. Mit halsbrecherischer Überstürzung. In ihr Verhängnis. [By the way: Wussten Sie schon? Interpretationsansätze dieser Art gibt es ab nächstem Jahr beim Aldi. Von philosophischer Beratung allein kann ja keiner leben.] -

Jan hat mich da auf etwas anderes gebracht. (Ich erinnere mich dunkel, das vor Jahren schon in einem Interview mit Pinter gelesen zu haben, bin mir aber überhaupt nicht sicher. Egal!) Stell dir vor, die Figur habe plötzlich Lust bekommen, gerade diesen Satz zu äussern. Es ist ihr danach zumute. Es ist, als ob der Mikrofonheini aus der 'Schillerstrasse' ihm den Auftrag gegeben hätte, nun genau diesen Satz zu äussern. Und auf einmal ändert sich die ganze Situation. Und in der Tat bricht nun neues Zeugs oder eine andere Dimension in das Stück ein.

Eine Identität wurde nicht durchgehalten. Unvermittelt ist eine neue aufgetaucht. Heraufbeschworen, in die Situation geworfen durch einen Satz, der neue Reaktionen verlangt, die ihrerseits ... . Ein fremder Satz wurde in den Gesprächspool geworfen. Eine Situation eskaliert.

Ende

Und was hat das nun mit Lebensweisheit zu tun? Das herauszufinden überlasse ich nun als Hausaufgabe der geneigten Leserin. -
Hinweise:
Es geht um Verhaltensänderung in einer extrem festgefahrenen Situation bei eingestandenem Unvermögen, etwas daran zu ändern. -
Stell dir vor, du seist in der 'Schillerstrasse' und lass dir was einflüstern. -
Nimm an, es stehe fest: Du kannst die andern nicht ändern, dich nicht ändern, die Situation nicht ändern. Du bist in einem Stück von Harold Pinter festgefahren. Und? -
Nimm die Situation nicht ernst! Nimm dich selber auf keinen Fall ernst! Schon klar: Du bist ein hoffnungslosr Fall. -
Konzentriere dich einfach auf den Satz! Deine Aufgabe besteht genau darin, diesen Satz zu äussern. Das ist nichts Persönliches. -
Entwirf die Ausgangssituation für ein neues Stück!

Und bevor die klärenden Hinweise des Lehrers die Komplexität der Aufgabe bei weitem übertreffen, setzt er hier seinen letzten Punkt.